Das 3. Buch Des Blutes - 3
war Ricky gleichfalls tot.
Die Türen waren alle verschlossen, am Spiel waren jetzt nur noch zwei beteiligt. Sie und es.
Sie stürmte auf die Treppe los, ohne sich über ihre weitere Vorgehensweise im klaren zu sein, aber in der Gewißheit, daß es selbstmörderisch war, im Foyer zu bleiben. Als ihr Fuß die unterste Stufe berührte, gingen hinter ihr seufzend wieder die Schwingtüren auf, und etwas setzte ihr nach, flackernd und geschwind. Es war ein, zwei Schritte hinter ihr, während sie atemlos die Treppe hinaufstieg und dabei ihre Körpermassen verfluchte. Grelle Lichtzuckungen schössen von seinem Leib an ihr vorbei wie die ersten zündenden Feuergarben einer Leuchtkugel. Es bereitete einen neuen Trick vor, davon war sie überzeugt.
Sie erreichte den oberen Treppenabsatz, den Verehrer noch immer dicht auf den Fersen. Der vor ihr liegende, von einer einzelnen verschmierten Birne erhellte Gang versprach sehr wenig Erleichterung. Er erstreckte sich über die volle Länge des Kinos und führte zu ein paar Lagerräumen, die mit Plunder vollgepfercht waren: Plakaten, 3-D-Brillen, verschimmelten Standfotos. In einem der Lagerräume war eine Feuertür, da war sie sicher. Aber in welchem? Sie war nur einmal hier oben gewesen, und das war zwei Jahre her.
»Scheiße. Scheiße. Scheiße«, sagte sie. Sie rannte zum ersten Lagerraum. Die Tür war verschlossen. Protestierend schlug sie dagegen. Sie blieb verschlossen. Mit der nächsten das gleiche.
Mit der dritten das gleiche. Selbst wenn sie sich erinnern könnte, welcher Lagerraum den Fluchtweg enthielt, wären die Türen zu massiv, um sie aufzubrechen. Angenommen, sie hätte zehn Minuten plus Arschaufreißers Beistand, dann brächte sie es wohl zustande. Aber das Auge war ihr im Rücken; ihr blieben keine zehn Sekunden, geschweige denn zehn Minuten.
Hier half einzig und allein noch die Konfrontation. Mit einem Gebet auf den Lippen machte sie auf den Hacken kehrt, um sich dem Treppenaufgang und ihrem Verfolger zuzuwenden. Der Treppenabsatz war leer.
Sie starrte die trostlose Anordnung ausgebrannter Glühbirnen und abblätternder Farbe an, wie um darin das Unsichtbare zu erspähen, aber das Wesen war überhaupt nicht vor ihr, es war hinter ihr. Wieder loderte die Helle in ihrem Rücken auf, und diesmal zündete die Leuchtkugel, Feuer wurde zu Licht, Licht wurde zum Bild, und Herrlichkeiten, die sie fast vergessen hatte, ergossen sich den Gang herunter auf sie zu. Entfesselte Szenen aus tausend Filmen, jede mit der dazugehörigen unverwechselbaren Assoziation. Zum ersten Mal dämmerten ihr die Ursprünge dieser außergewöhnlichen Spezies. Sie war ein Geist in der Maschinerie des Kinos: ein Zelluloidsohn.
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»Gib mir deine Seele«, sagten tausend Stars.
»Ich glaub’ nicht an Seelen«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Dann gib mir, was du der Leinwand gibst, was ihr jeder gibt.
Gib mir ein wenig Liebe.«
Deshalb spielten all diese Szenen vor ihr, spielten abermals, in unablässiger Wiederholung. Sie waren allesamt Momente, in denen ein Publikum auf magische Weise mit der Leinwand eins wurde, im unablässigen Hinschauen sein Blut durch die Augen verströmte. Sie hatte es selber oft getan. Sich einen Film angesehen und gefühlt, wie er sie so sehr mitnahm, daß es ihr einen fast körperlichen Schmerz bereitete, wenn der Nachspann abspulte und die Illusion zerstört war; hatte sie doch das Gefühl, etwas von sich selbst zurückgelassen, einen Teil ihres inneren Seins dort oben unter ihren Helden und Heldinnen verloren zu haben. Vielleicht war es so. Vielleicht beförderte die Luft die Fracht ihrer Sehnsüchte und lagerte sie irgendwo ab, vermengt mit der Fracht anderer Herzen, und dieses Ge misch sammelte sich in irgendeiner Nische, bis …
Bis zu dem hier. Diesem Kind ihrer kollektiven Leidenschaften, diesem Verführer in Technicolor: abgedroschen, obszön und fast unwiderstehlich.
Schön und gut, dachte sie, deinen Henker zu begreifen ist eine Sache; eine völlig andere jedoch, ihm seine beruflichen Verpflichtungen auszureden.
Selbst während sie dem Rätselgebilde auf den Grund kam, saugte sie die Bildsequenzen in dem Wesen gierig auf; sie konnte einfach nicht anders. Aufreizende, flüchtige Eindrücke von Leben, die sie gelebt, Gesichtern, die sie geliebt hatte.
Mickymaus, beim Tanz mit einem Besen, die Gish in Broken Blossoms, die Ga rland (mit Toto an ihrer Seite), wie sie dem Tornado zusieht, der über Kansas niedergeht, Astaire in Top Hat, Welles
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