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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Einzelheit, die sie sich ausmalen konnte, fehlte die nötige
    Wucht. Andererseits waren Monster selten besonders schrecklich, sobald man sie ans helle Tageslicht gezerrt hatte.
    Solange man diesen Mann nur durch seine Taten kannte, übte er unsägliche Macht über die Einbildungskraft aus; aber die menschliche Wahrheit hinter dem Schrecken war bestimmt bitter enttäuschend, das wußte sie. Kein Monster war er; nur ein käsiges Jammerbild von Mann, das Mitleid nötiger hatte als Furcht. Der nächste Windstoß führte heftigeren Regen heran.
    Es wird Zeit, beschloß sie, Schluß für heute mit Abenteuern.
    Sie kehrte der öffentlichen Toilette den Rücken und eilte durch die Häuserkarrees zum Schutz des Wagens, wobei ihr der eisige Regen das Gesicht bis zur Fühllosigkeit zernadelte.
    Allem Anschein nach waren die Dinnergäste über die Geschichte erfreulich entsetzt, und Trevor, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war wütend. Doch jetzt war es heraus, es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Auch konnte sie die Befriedigung nicht leugnen, die es ihr bereitete, das interfakultative Geschwätz rings um den Tisch zum Verstummen gebracht zu haben. Es war Bernadette, Trevors Assistentin im Historischen Fachbereich, die das quälende Schweigen brach.
    »Wann war das?«
    »Irgendwann im Sommer«, sagte Helen.
    »Kann mich nicht entsinnen, davon gelesen zu haben«, sagte Archie, der wesentlich erträglicher war nach zweistündigem Trinken. Es besänftigte seine Zunge, die sich sonst überschwenglich in Geistesblitzen erging.
    »Vielleicht wird’s von der Polizei vertuscht«, warf Daniel ein.
    »Ein Komplott?« sagte Trevor unverhohlen zynisch.
    »Das kommt alle Tage vor«, gab Daniel zurück.
    »Weshalb sollten sie so etwas vertuschen?« sagte Helen.
    »Das ergibt keinen Sinn.«
    »Seit wann ergibt polizeiliches Vorgehen schon einen Sinn?« entgegnete Daniel.
    Bernadette schaltete sich ein, ehe Helen antworten konnte.
    »Es läßt uns ja mittlerweile völlig kalt, wenn wir solche Sachen lesen«, sagte sie.
    »Red gefälligst nur für dich selber«, legte jemand los, aber sie ignorierte ihn und fuhr fort:
    »Wir sind ganz belämmert vor lauter Gewalt. Wir nehmen sie nicht mehr wahr, selbst wenn sie sich direkt vor unserer Nase abspielt.«
    »Jeden Abend auf dem Bildschirm«, warf Archie ein, »Tod und Unheil voll in Farbe.«
    »Da ist aber nichts besonders Modernes dran«, sagte Trevor.
    »Ein Elisabethaner war andauernd mit dem Tod konfrontiert, öffentliche Hinrichtungen waren als Unterhaltung sehr beliebt.«
    Die Tischrunde brach in eine Kakophonie von Meinungen aus. Nach zwei Stunden höflichen Smalltalks hatte die Dinnerparty plötzlich Feuer gefangen. Eine hitzige Debatte war jetzt in Gang, und Helen tat es leid, daß sie keine Zeit gehabt hatte, die Fotos entwickeln und abziehen zu lassen; die Graffiti hätten diesem erfrischenden Streit weiteren Zündstoff geliefert.
    Wie üblich war es Purcell, der als letzter seine Ansicht vorbrachte; und - wiederum wie üblich - sie war verheerend.
    »Helen, meine Süße, es könnte natürlich auch sein«, begann er, und beißend schwang die Vorfreude auf eine Kontroverse in der affektierten Müdigkeit seiner Stimme mit, »daß deine Zeu-ginnen alle lügen, nicht wahr?«
    Die Unterhaltung rund um den Tisch versiegte, und alle Köpfe wandten sich in Purcells Richtung. Perverserweise
    ignorierte er die Aufmerksamkeit, die er auf sich gezogen hatte, und wandte sich zur Seite, um dem Jungen, den er mitgebracht hatte, etwas ins Ohr zu flüstern - eine neue Flamme, die, wie gehabt, nur Wochen später wegen des nächsten hübschen Bengels aufgegeben werden würde.
    »Lügen?« sagte Helen. Schon konnte sie spüren, wie sie auf die Bemerkung hin wütend wurde, und Purcell hatte erst ein Dutzend Worte gesprochen.
    »Wieso nicht?« antwortete er und hob dabei sein Glas Wein an die Lippen. »Vielleicht bosseln sie alle an irgendeiner viel-schichtigen Fiktion. Die Geschichte von der Verstümmelung des Spastikers in der öffentlichen Toilette. Die Ermordung des alten Mannes. Selbst dieser Haken. Alles ganz geläufige Ele-mente. Du solltest bedenken, daß diese Greuelgeschichten etwas Traditionelles an sich haben. Sie waren früher ständig im Umlauf; eine unterschwellige Dynamik lag darin. Ein gewisser Anreiz zum Wettbewerb womöglich. Man versuchte, ein neues Detail zu finden, das sich der kollektiven Fiktion hinzufügen ließ; ein neues Überraschungsmoment, durch das die Erzählung

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