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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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daran, daß Sie mir von dem alten Mann erzählt haben?«
    »Da müssen Sie was mißverstanden haben«, antwortete Anne-Marie, und dann, mit wesentlich leiserer Stimme: »Sie hätten nicht kommen sollen. Jeder weiß es. «
    »Weiß was?«
    Die junge Frau hatte zu zittern angefangen. »Ja, begreifen Sie denn nicht? Sie glauben wohl, die Leute passen nicht auf?«
    »Was macht das schon? Ich wollte von Ihnen doch nur…«
    »Ich weiß gar nichts«, wiederholte Anne-Marie. »Egal was ich Ihnen gesagt hab’, es war gelogen.«
    »Also dann, danke jedenfalls«, sagte Helen, zu verwirrt durch die konfusen Signale von Anne-Marie, um noch weiter auf ihrer Forderung zu bestehen. Kaum hatte sie sich von der Tür weggewandt, als sie auch schon hörte, wie das Schloß hinter ihr zuschnappte.
    Diese Unterhaltung war nur eine von mehreren Enttäuschungen, die der Morgen brachte. Sie ging zu der Ladenzeile zurück und suchte den Supermarkt auf, von dem Josie gesprochen hatte. Hier erkundigte sie sich über die Toiletten und deren jüngste Vergangenheit. Nur war der Supermarkt letzten Monat in andere Hände übergegangen, und der neue Besitzer, ein einsilbiger Pakistani, bestand darauf, nicht zu wissen, wann oder weshalb die Toiletten geschlossen
    worden waren. Sie war sich bewußt, daß sie, während sie ihre Erkundigungen einzog, von den anderen Kunden im Laden kritisch gemustert wurde; sie fühlte sich wie ein Paria. Dieses Gefühl verstärkte sich, als sie, nach Verlassen des Supermarkts, Josie aus dem Waschsalon herauskommen sah und ihr hinterherrief, woraufhin diese nur ihren Schritt beschleunigte und im Labyrinth der Gänge untertauchte. Helen folgte ihr, verlor aber rasch sowohl die Beute wie auch die Orientierung.
    Vor Frustration den Tränen nahe, stand sie inmitten der umgestürzten Abfalltüten; Verachtung für ihre eigene Dummheit stieg in ihr hoch. Sie gehörte nicht hierher, oder?
    Wie viele Male hatte sie andere wegen ihres vermessenen Anspruchs kritisiert, gesellschaftliche Gruppierungen verstehen zu können, die sie sich bloß aus weiter Ferne angesehen hatten? Und da kam sie daher und machte denselben Riesenfehler; kreuzte hier mit ihrer Kamera und ihren Fragen auf und benutzte Leben (und Tod) dieser Leute als Party-
    Gesprächsstoff. Sie machte Anne-Marie keinen Vorwurf, daß sie sie hatte fallenlassen; hatte sie was Besseres verdient?
    Müde und ausgefroren, fand sie es nun doch an der Zeit, Purcells Einwand anzuerkennen. Es war alles Fiktion, was man ihr erzählt hatte. Man hatte mit ihr gespielt - hatte ihren Wunsch gewittert, ein paar Gruselgeschichten aufgetischt zu bekommen -, und sie, der komplette Trottel, war auf jedes lächerliche Wort hereingefallen. Es war Zeit, ihre Leichtgläubigkeit wieder einzupacken und abzuziehen.
    Ein Besuch war jedoch noch zu erledigen, ehe sie zum Wagen zurückkehrte. Sie wollte ein letztes Mal den gemalten Kopf ansehen. Nicht als Anthropologin unter einer fremden Standesgemeinschaft, sondern als erklärte Geisterbahnfahrerin: des Nervenkitzels wegen. Vor Nummer 14 wurde sie jedoch mit der abschließenden und niederschmetterndsten Enttäu-
    schung konfrontiert. Die Maisonette war von gewissenhaften Stadtverwaltungsarbeitern dichtgemacht worden. Die Tür war abgesperrt, das vordere Fenster mit Brettern vernagelt.
    Sie war jedoch entschlossen, sich nicht so ohne weiteres geschlagen zu geben. Sie begab sich auf die Rückseite des Butts-Blocks und machte den Hof von Nummer 14 durch simples Nachrechnen ausfindig. Das Tor war von innen zugekeilt, aber sie stemmte sich schwer dagegen, und unter heftigem Druck auf beide Flügel ging es schließlich auf. Ein Haufen Plunderverrottete Teppiche, ein Karton regendurchweichter Magazine, ein abgenadelter Weihnachtsbaum - hatte es blockiert.
    Sie ging durch den Hof zu den verrammelten Fenstern und spähte durch die Holzleisten. Draußen war es zwar nicht hell, aber drinnen war es noch dunkler. Es fiel schwer, mehr als eine nur ganz vage Andeutung des Gemäldes auf der Schlafzimmerwand zu erhaschen. Sie drängte ihr Gesicht nah an das Holz, erpicht auf einen letzten flüchtigen Anblick.
    Ein Schatten bewegte sich durch das Zimmer und blockierte vorübergehend ihre Sicht. Verdattert trat sie vom Fenster zurück und überlegte kurz, was sie da gesehen hatte. Vielleicht bloß ihren eigenen, durchs Fenster fallenden Schatten? Aber sie hatte sich ja nicht bewegt, sondern das da drinnen.
    Vorsichtiger näherte sie sich erneut dem Fenster. Die Luft

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