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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wieder ein klein wenig entsetzlicher wurde, wenn man sie weitergab.«
    »Dir mag das ja geläufig sein«, sagte Helen abwehrend.
    Purcell war immer so gelassen; das irritierte sie. Selbst wenn er mit seinem Einwand letztlich recht hätte - was sie bezweifelte -, würde sie das um keinen Preis zugeben. » Ich hab’ noch nie eine derartige Geschichte gehört.«
    »Tatsächlich nicht?« sagte Purcell, als ob sie sich eben zum Analphabetentum bekannt hätte. »Was is’ mit der von den Verliebten und dem entlaufenen Irren, hast du die gehört?« »Ich hab’ davon gehört…« sagte Daniel.
    »Der Liebhaber wird ausgeweidet - gewöhnlich von einem hakenhändigen Mann - und die Leiche auf dem Wagendach zu-
    rückgelassen, während die Verlobte auf dem Vordersitz kauert.
    Mit dieser abschreckenden Erzählung wird vor den Übeln zügelloser Heterosexualität gewarnt.« Der Scherz entlockte jedem außer Helen eine Lachsalve. »Diese Geschichten sind weit verbreitet.«
    »Also sagst du, daß sie mir Lügen erzählen…« begehrte sie auf.
    »Nicht gerade Lügen…«
    »Du sagtest Lügen. «
    »Das war provozierend gemeint«, erwiderte Purcell, und sein beschwichtigender Tonfall war empörender als je. »Es liegt mir fern, etwa anzudeuten, daß irgendeine ernstliche Böswilligkeit dahintersteckt. Aber du mußt zugeben, daß du bis jetzt keinen einzigen Zeugen kennengelernt hast. All diese Vorkommnisse sind zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt einer nicht näher bestimmten Person passiert. Ihr Bericht stammt aus x-ter Hand. Zugestoßen sind sie bestenfalls den Brüdern von Freunden entfernter Verwandter. Bitte, berücksichtige die Möglichkeit, daß diese Vorkommnisse vielleicht überhaupt nicht in der wirklichen Welt existieren, sondern bloß ein Nervenkitzel für gelangweilte Hausfrauen sind…«
    Helen brachte kein Gegenargument vor, aus dem einfachen Grund, weil ihr keines zur Verfügung stand. Purcells Einwand wegen der auffallenden Nichtvorhandenheit von Zeugen war absolut stichhaltig; sie selbst hatte sich darüber gewundert.
    Auch war es merkwürdig, wie prompt die Frauen im Ruskin-
    Block die Ermordung des alten Mannes einem anderen Wohnkomplex zugeordnet hatten, als ob sich diese Greuel grade außer Sichtweite - um die nächste Ecke, am anderen Ende der nächsten Passage - ereigneten, aber nie hier.
    »Wozu also?« fragte Bernadette.
    »Was wozu?« rätselte Archie.
    »Die Geschichten. Wozu diese Geschichten erzählen, wenn sie nicht wahr sind?«
    »Ja«, sagte Helen und warf damit die Kontroverse in Purcells ausladenden Schoß zurück. » Wozu? «
    Purcell gratulierte sich, war er sich doch bewußt, daß sein Eintritt in die Debatte die Grundthese auf einen Schlag geändert hatte. »Das weiß ich nicht«, sagte er, froh, das Spiel abbrechen zu können, jetzt da er seine Muskeln gezeigt hatte.
    »Du darfst mich wirklich nicht allzu ernst nehmen, Helen. Ich versuch’s zumindest.« Der Junge neben Purcell kicherte.
    »Vielleicht ist das Ganze einfach tabuisiert«, sagte Archie.
    »Vertuscht«, half Daniel nach.
    »Nicht so, wie du das meinst«, entgegnete Archie scharf.
    »Die Welt besteht nicht nur aus Politik, Daniel.«
    »So was Naives.«
    »Was sollte am Tod denn so tabu sein?« sagte Trevor.
    »Bernadette hat schon drauf hingewiesen: Wir haben ihn ständig vor Augen. Das Fernsehen, die Zeitungen.«
    »Vielleicht ist das nicht nah genug«, gab Bernadette zu bedenken.
    »Hat jemand was dagegen, wenn ich rauche?« platzte Purcell dazwischen. »Wo doch der Nachtisch anscheinend auf unbestimmte Zeit verschoben ist…«
    Helen ignorierte die Bemerkung und fragte Bernadette, was sie denn mit »nicht nah genug« meine.
    Bernadette zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau«, gestand sie, »vielleicht bloß, daß der Tod in greifbarer Nähe sein muß; wir müssen die Gewißheit haben, daß er gleich um 41
    die Ecke zu finden ist. Das Fernsehen ist nicht dicht genug dran…«
    Helen runzelte die Stirn. Der Gedanke kam ihr irgendwie einleuchtend vor, aber in dem momentanen Durcheinander konnte sie seinen tieferen Sinn nicht erfassen. »Glaubst du auch, daß es nur Geschichten sind?« fragte sie.
    »Andrew hat ein starkes Argument…« antwortete Bernadette.
    »Sehr freundlich«, sagte Purcell. »Hat jemand ‘n Zündholz?
    Der Junge hat mein Feuerzeug versetzt.«
    »… mit diesem Fehlen von Zeugen.«
    »Fest steht lediglich, daß ich niemand kennengelernt hab’, der tatsächlich was gesehen hat«, widersprach

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