Das 5. Buch des Blutes - 5
Sie wollte jedes sensationslüsterne Gesicht ohrfeigen, bis es zur Vernunft kam; wollte sagen: »Schmerz und Kummer sind es, die ihr ausspionieren werdet. Wozu? Wozu?« Aber sie hatte keinen Mut mehr. Vor lauter Ekel konnte sie keine andere Energie mehr aufbringen, als fortzugehen und die Menge ihrem Zeitvertreib zu überlassen.
Trevor war nach Hause gekommen. Er versuchte erst gar nicht, Gründe für seine Abwesenheit anzuführen, sondern wartete darauf, daß Helen ihn ins Kreuzverhör nähme. Als sie das unterließ, verfiel er in eine unbekümmerte Jovialität, die schlimmer war als sein erwartungsvolles Schweigen. Helen war sich vage bewußt, daß ihr Desinteresse wahrscheinlich verunsichernder für ihn war als die theatralischen Mätzchen, mit denen er gerechnet hatte. Es war ihr vollkommen gleichgültig. Sie stellte das Radio auf den Ortssender ein und wartete auf die neuesten Meldungen. Da waren sie auch schon, und sie bestätigten, was ihr die Frau in der Menge erzählt hatte.
Kerry Latimer war tot. Eine oder mehrere Personen hatten sich über den Hinterhof Zugang zum Haus verschafft und das Kind ermordet, das gerade auf dem Küchenboden spielte. Ein Polizeisprecher drosch die üblichen leeren Phrasen, bezeichnete Kerrys Tod als »unbeschreibliches Verbrechen«
und den Übeltäter als »gefährliche und schwer gestörte Person«. Dieses eine Mal schien die Rhetorik berechtigt, und die Stimme des Mannes zitterte merklich, als er von der Szene sprach, mit der die Beamten in der Küche von Anne-Maries Maisonette konfrontiert worden waren.
»Was soll’n das Radio?« erkundigte sich Trevor beiläufig, nachdem sich Helen die dritte von drei aufeinanderfolgenden Nachrichtensendungen angehört hatte. Sie fand es letztlich sinnlos, ihm ihr Spector-Street-Erlebnis vorzuenthalten; früher oder später würde er es herausbekommen. Kühl gab sie ihm einen dürftigen Überblick über das, was im Butts-Block passiert war.
»Diese Anne-Marie ist die Frau, die du kennengelernt hast, als du zum erstenmal in der Wohnanlage warst, hab’ ich recht?« Sie nickte und hoffte zugleich, er werde ihr nicht zu viele Fragen stellen. Sie war den Tränen nahe, und sie hatte nicht die Absicht, vor ihm zusammenzubrechen.
»Dann hast du recht gehabt«, sagte er.
»Recht womit?«
»Daß sich dort ein Irrsinniger rumtreibt.«
»Nein«, sagte sie. »Nein.«
»Aber der Kleine…«
Sie stand auf und trat ans Fenster, schaute in die zwei Stockwerke tiefer liegende, dunkel gewordene Straße hinunter.
Weshalb verspürte sie das dringende Bedürfnis, die Komplott-
Theorie so kategorisch zurückzuweisen? Weshalb betete sie jetzt darum, daß Purcell recht gehabt hatte, und daß alles, was man ihr erzählt hatte, erlogen war? Immer wieder vergegenwärtigte sie sich, wie Anne-Marie gewesen war, als sie sie heute morgen besucht hatte: bleich, total nervös, voller Erwar-51
tung. Hatte sie nicht wie eine Frau gewirkt, die mit irgendeiner Ankunft rechnet? Eifrig bestrebt, unerwünschte Besucher ab-zuwimmeln, damit sie sich wieder der Beschäftigung des Wartens zuwenden konnte. Aber warten auf was, oder wen ? War es denkbar, daß Anne-Marie tatsächlich den Mörder kannte? Ihn vielleicht ins Haus hereingebeten hatte?
»Hoffentlich finden sie den Dreckskerl«, sagte sie, noch immer die Straße betrachtend.
»Das werden sie«, antwortete Trevor. »Ein Kindsmörder, du lieber Himmel. Das werden sie besonders vordringlich behandeln. «
Ein Mann erschien an der Straßenecke, drehte sich um und pfiff. Ein großer Schäferhund kam bei Fuß, und die beiden setzten sich Richtung Kathedrale in Bewegung.
»Der Hund«, murmelte Helen.
»Was?«
Über alldem, was danach gefolgt war, hatte sie den Hund vergessen. Jetzt durchzuckte sie der Schreck, den sie empfunden hatte, als das Tier gegen das Fenster sprang, zum zweitenmal.
»Welcher Hund?« drängte Trevor.
»Ich bin heut’ noch mal zu der Wohnung gegangen - wo ich die Bilder von den Graffiti gemacht hab’. Es war ein Hund drin.
Eingesperrt.«
»Ja, und?«
»Er wird verhungern. Niemand weiß, daß er da drin ist.«
»Und woher weißt du, daß er nicht absichtlich eingesperrt wurde?«
»Er hat solchen Lärm gemacht…« sagte sie.
»Hunde bellen«, antwortete Trevor. »Das ist das einzige, wozu sie taugen.«
»Nein…« sagte sie sehr leise, sich an die durch das vernagelte Fenster dringenden Geräusche erinnernd. »Er hat nicht gebellt.«
»Vergiß den Hund«, sagte Trevor. »Und das
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