Das 5. Buch des Blutes - 5
vibrierte; von irgendwoher konnte sie ein gedämpftes Winseln hören, obwohl sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es von drinnen oder draußen kam. Wieder legte sie ihr Gesicht an die rohen Bretter, und plötzlich sprang etwas gegen das Fenster.
Diesmal entfuhr ihr ein Schrei. Von drinnen war ein Kratzgeräusch zu hören, als ob Nägel über das Holz scharrten.
Ein Hund! Und ein großer, bei dieser Sprunghöhe.
»Idiotisch«, sagte sie laut zu sich selbst. Schlagartig war sie in Schweiß gebadet.
Das Gekratze war vorbei, kaum daß es begonnen hatte, aber sie konnte sich nicht dazu bringen, zum Fenster zurückzugehen. Offensichtlich hatten die Arbeiter, die die Maisonette dichtgemacht hatten, sie nicht ordentlich überprüft und aus Versehen das Tier eingesperrt. Es war ausgehungert, nach dem Gegeifer zu urteilen, das sie gehört hatte; sie war dankbar, daß sie nicht versucht hatte einzubrechen. Der Hundhungrig, womöglich noch tollwütig in der stinkenden Dunkelheit - hätte ihr die Kehle herausreißen können.
Sie starrte das vernagelte Fenster an. Die Schlitze zwischen den Brettern waren allenfalls einen guten Zentimeter breit, aber sie spürte irgendwie, daß das Tier auf der anderen Seite auf den Hinterbeinen stand und sie durch die Zwischenräume beobachtete. Sie konnte sein Keuchen hören, jetzt, da ihr eigener Atem wieder gleichmäßiger ging; konnte hören, wie seine Klauen über das Fensterbrett scharrten.
»Sauvieh, verdammtes…« sagte sie. »Bleib du ja schön da drinnen.«
Sie wich Richtung Tor zurück. Schwärme von Asseln und Spinnen, durch das Verrutschen der Teppiche hinter dem Tor aus ihren Nestern aufgescheucht, flitzten am Boden herum, auf der Suche nach einer neuen, wohnlichen Dunkelheit.
Sie schloß das Tor hinter sich und war unterwegs zur Vorderseite des Blocks, als sie die Sirene hörte; zwei häßliche Geräuschspiralen, die Helens Nackenhaare kribbeln ließen. Sie kamen näher. Sie beschleunigte ihr Tempo und bog in den Butts-Innenhof ein, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie mehrere Polizisten die Grasfläche hinter dem Scheiterhaufen über-querten und ein Rettungswagen auf den Gehsteig fuhr und zur gegenüberliegenden Seite des Häuserkarrees rollte. Leute waren aus ihren Wohnungen aufgetaucht, standen auf ihren Balkonen und starrten hinunter. Andere wanderten, in nackter Neugier, um den Hof, um sich einer wachsenden Menschen-
traube anzuschließen. Helens Magen schien zu ihren Eingeweiden abzusacken, als sie erkannte, wo der Mittelpunkt des Interesses lag: vor Anne-Maries Haustür. Die Polizei bahnte für die Männer von der Rettung einen Weg durch das Gedränge. Ein zweites Polizeiauto, das der Route des Rettungswagens gefolgt war, hielt jetzt auf dem Gehsteig. Zwei Beamte in Zivil stiegen aus.
Sie ging zum Rand der Menge. Die ohnehin wenigen Gespräche zwischen den Zuschauern wurden mit leiser Stimme geführt; ein oder zwei der älteren Frauen weinten. Obwohl sie über die Köpfe der Schaulustigen hinwegspähte, konnte sie nichts sehen. Sie wandte sich an einen bärtigen Mann, dem sein Kind auf den Schultern saß, und fragte ihn, was los sei. Er wußte es nicht. Jemand sei tot, hatte er gehört, aber er war sich nicht sicher.
»Anne-Marie?« fragte sie.
Eine Frau drehte sich um und sagte: »Sie kennen sie?« fast ehrfurchtsvoll, wie man von jemand spricht, den man liebt.
»Ein wenig«, antwortete Helen zögernd. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Die Frau führte unwillkürlich die Hand zum Mund, wie um die Worte aufzuhalten, bevor sie kamen. Aber da waren sie trotzdem: »Das Kind…« sagte sie.
»Kerry?«
»Jemand is’ von hinten ins Haus gekommen. Hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Helen fühlte, wie ihr neuerlich der Schweiß ausbrach. Vor ihrem geistigen Auge stiegen und fielen die Zeitungen in Anne-Maries Hinterhof.
»Nein«, sagte sie.
»Genau so war’s.«
Sie sah die Tragödin an, die ihr diese Obszönität andrehen wollte, und sagte abermals: »Nein.« Es spottete jeder Glaubhaftigkeit; doch ihre Verneinungen konnten die gräßliche Einsicht, die ihr dämmerte, nicht zum Schweigen bringen.
Sie kehrte der Frau den Rücken und bewegte sich rudernd hinaus aus der Menge. Zu sehen gäbe es nichts, das wußte sie; und selbst wenn, so hatte sie nicht den Wunsch, einen Blick darauf zu werfen. Diese Menschen - immer mehr kamen aus ihren Wohnungen, als die Geschichte sich verbreitete - legten eine Begierde an den Tag, von der sie angeekelt war.
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