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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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traumatisiert. In seinen fünfundfünfzig Jahren war er selten krank gewesen; Erfolg hatte körperliche Leiden in Schach gehalten. Aber jetzt fühlte er sich scheußlich.
    Er hatte solche Kopfschmerzen, daß er kaum mehr sehen
    konnte - mehr mit Hilfe des Tast- als des Gesichtssinnes torkelte er aus seinem Schlafzimmer zur Küche hinunter. Dort goß er sich ein Glas Milch ein, setzte sich auf den Tisch und brachte es an die Lippen. Er trank jedoch nicht. Sein Blick war unwillkürlich auf die Hand gefallen, die das Glas hielt. Durch einen Schmerznebel starrte er sie an. Es schien nicht seine Hand zu sein; sie war zu feingliedrig, zu glatt. Zitternd stellte er das Glas hin, aber es kippte um; die Milch bildete eine Lache auf der Teakholztischplatte und floß auf den Boden.
    Er stand auf, wobei das Geräusch der Milch auf den Küchenkacheln sonderbare Gedanken in ihm weckte, und bewegte sich schwankend in sein Arbeitszimmer hinüber. Er mußte unbedingt irgend jemanden um sich haben: egal wen. Er nahm sein Telefonverzeichnis und versuchte, das Gekritzel auf den einzelnen Seiten zu entziffern, aber die Nummern wurden einfach nicht lesbar. Seine Panik wuchs. War das Wahnsinn?
    Das Trugbild von seiner verwandelten Hand, die widernatürlichen Empfindungen, die seinen Körper durchjagten. Er streckte die Hand aus, um sein Hemd aufzuknöpfen, und dabei streifte er ein weiteres Wahngebilde, aberwitziger als das erste. Mit widerstrebenden Fingern riß er an dem Hemd, während er sich immer und immer wieder sagte, daß nichts von dem Ganzen möglich sei.
    Aber die Beweise waren schlagend. Er berührte einen Körper, der nicht mehr der seine war. Es gab noch immer Zeichen, daß Fleisch und Bein ihm gehörten - eine Blinddarmnarbe an seinem Unterbauch, ein Muttermal unter seinem Arm -, aber im wesentlichen war sein Körper zu Bildungen verlockt worden (wurde noch immer, hier und jetzt, vor seinen Augen, dazu verlockt), die ihn mit Scham erfüllten.
    Mit den Nägeln fuhr er über die Formen, die seinen Rumpf verunstalteten, als könnten sie sich unter seiner Attacke auflösen, aber sie bluteten bloß. In seinem Leben hatte Garvey viel gelitten (und fast alle seine Leiden sich selber zugefügt).
    Er hatte Zeiten der Haft durchgemacht; war knapp schwerer Körperverletzung entgangen; hatte den Betrug schöner Frauen erduldet. Aber diese Torturen waren nichts neben der Qual, die er jetzt empfand. Er war nicht er selbst! Im Schlaf hatte man ihm den eigenen Körper weggenommen und statt seiner diesen Wechselbalg zurückgelassen. Das Grauenvolle daran zerschmetterte seine Selbstachtung und brachte seine geistige Gesundheit ins Wanken.
    Außerstande, die Tränen zurückzuhalten, begann er am Gürtel seiner Hose zu zerren. Lieber Gott, stammelte er, bitte lieber Gott, laß mich noch ganz sein. Wegen der Tränen konnte er kaum etwas sehen. Er wischte sie weg und schaute sich seine Weichteile an. Als er sah, welche Mißbildungen dort im Gange waren, brüllte er, bis die Fenster klirrten.
    Garvey war kein Mann der Ausflüchte. Taten, das wußte er, war mit Debattieren nicht viel gedient. Er war sich nicht im klaren, wie dieser Traktat über Verwandlung in seinen Organismus geschrieben worden war, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Das einzige, woran er denken konnte, war, wie viele Tode der Schande er sterben würde, wenn dieser scheußliche Zustand je das Tageslicht erblickte. Er ging wieder in die Küche, wählte ein großes Fleischmesser aus der Schublade, brachte dann seine Kleidung in Ordnung und verließ das Haus.
    Seine Tränen waren versiegt. Sie waren jetzt reine Verschwendung, und er war kein verschwenderischer Mann. Er fuhr durch die leere Stadt nach Süden zum Fluß und über die Blackfriars Bridge. Dort parkte er und ging hinunter zum Ufer.
    Die Themse war hoch und reißend heut nacht, die Spitzen der Wasser schaumigweiß gepeitscht.
    Erst jetzt, nachdem er so weit gekommen war, ohne seine Absichten eingehender zu prüfen, ließ ihn Furcht vor der Vernichtung zögern. Er war ein wohlhabender und einflußreicher
    Mann; gab es nicht andere Wege aus dieser Heimsuchung als gerade den, auf den er Hals über Kopf gekommen war? Pillenverkäufer, die den Irrsinn, der seine Zellen befallen hatte, rück-gängig machen konnten; Chirurgen, die womöglich imstande waren, die anstößigen Partien wegzuschneiden und sein verlorenes Selbst wieder zusammenzuflicken? Aber wie lange würden solche Lösungen vorhalten? Früher oder

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