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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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der Luft.
    Sie war so subtil, daß er sie zunächst kaum registrierte. Erst als er die Hand hob, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, erkannte er, daß seine Arme von einer geschlossenen Gänsehaut überzogen waren.
    Hinter sich hörte er jetzt ein Atemgeräusch oder eine holprige Parodie desselben.
    Seine Lippen formten das Wort Billy, aber er sprach es nicht aus. Die Gänsehaut war an seinem Rückgrat angelangt; jetzt begann er zu schlottern. Die Zelle war also doch nicht leer; es war jemand bei ihm in dem winzigen Raum.
    Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und zwang sich dazu, sich umzudrehen. Die Zelle war dunkler, als sie es bei seinem Erwachen gewesen war, die Luft ein foppender Schleier. Aber Billy war nicht in der Zelle und auch sonst
    niemand.
    Und dann kam das Geräusch wieder und lenkte Cleves Aufmerksamkeit auf das untere Bett. Der Bereich war pechschwarz, ein Schatten - wie der an der Wand, zu tief und zu flatterhaft, um natürlicher Herkunft zu sein. Aus ihm heraus: ein krächzender Ansatz zu einem Atmen, das das Sterberöcheln eines Asthmatikers hätte sein können. Cleve erkannte, daß die trübe Düsternis in der Zelle dort ihren Ursprung hatte - in dem engen Bereich von Billys Bett. Der Schatten lief auf den Boden aus und stieg in Ringeln zur Oberseite des Etagenbetts hinauf.
    Cleves Angstvorrat war nicht unerschöpflich. In den vergangenen paar Tagen hatte er ihn in Träumen und Wachträumen aufgebraucht; er hatte geschwitzt, er war vor Schreck erstarrt, er hatte sich am Rande geistig normaler Erfahrung bewegt und überlebt. Jetzt - obgleich sein Körper noch immer auf Gänsehaut bestand - wurde Cleve innerlich nicht zur Panik getrieben. Er fühlte sich so cool wie nie zuvor; die jüngsten Ereignisse hatten ihn in eine neue Unvoreingenommenheit gepuscht. Er würde sich nicht
    verkriechen. Er würde nicht die Augen bedecken und den Morgen herbeibeten, denn wenn er das täte, würde er eines Tages unvermutet als Toter erwachen und niemals über die wahre Beschaffenheit dieses Mysteriums Bescheid wissen.
    Er holte einmal tief Atem und näherte sich dem Bett. Es hatte zu wackeln begonnen. Der lakenverhüllte Insasse der unteren Pritsche warf sich wild hin und her.
    »Billy«, sagte Cleve.
    Der Schatten begann zu wandern. Er bildete eine Pfütze um Cleves Füße, rollte zu seinem Gesicht hinauf; er roch nach Regen auf Stein, kalt und trostlos.
    Cleve stand nicht mehr als einen Meter von dem Bett entfernt, und noch immer konnte er nichts ausmachen; der
    Schatten trotzte ihm. Da er sich nicht um den Anblick bringen lassen wollte, langte Cleve Richtung Bett. Auf sein Drängen hin teilte sich der Schleier wie Rauch, und der Schemen, der auf der Matratze mit Armen und Beinen um sich schlug, gab sich zu erkennen.
    Es war natürlich Billy; und auch wieder nicht. Ein verlorener Billy vielleicht oder ein künftiger. Im letzteren Fall wollte Cleve nicht das geringste mit der Zukunft zu tun haben, die ein solches Trauma hervorbringen konnte. Dort auf dem unteren Bett lag eine dunkle, ekelhafte Form, die sich vor Cleves Augen noch immer verfestigte, sich aus den Schatten zusammenknüpfte. Etwas von einem tollwütigen Fuchs lag in ihren rotglühenden Augen, in ihrem Arsenal nadelspitzer Zähne; etwas von einem ans Licht beförderten Insekt, so wie sie da halb zusammengerollt lag, der Rücken mehr Flügeldecke als Fleisch und mehr Alptraum als beide. Kein Teil war endgültig festgelegt. Welche Anatomie sie auch hatte (vielleicht hatte sie viele), Cleve sah jedenfalls zu, wie dieser Zustand sich auflöste. Die Zähne wurden immer noch länger und dabei unstofflicher; ihre Materie, bis zur Zerbrechlichkeit ausgedünnt, löste sich schließlich wie Nebel auf; auch ihre hakenbewehrten, in der Luft strampelnden Glieder zerfledderten allmählich. Unter dem Chaos erkannte er das Gespenst von Billy Tait, mit offenem Mund, vor unerträglicher Qual lallend, während es darum rang, sich zu erkennen zu geben. Cleve wollte in den Mahlstrom langen und den Jungen herausfischen, aber er spürte, daß der Prozeß, dem er zuschaute, seine Eigendynamik hatte und eine Einmischung tödlich sein könnte. Ihm blieb nichts weiter übrig, als dazustehen und zuzusehen, wie Billys schmächtige weiße Glieder und sein sich hebender und senkender Unterleib sich wanden, um diese entsetzliche Anatomie abzustreifen. Fast zuletzt verschwanden dann auch die leuchtenden Augen: Auf Myriaden Fäden spritzten sie aus ihren Höhlen und verflogen
    in

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