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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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nicht, damit anzufangen, was Daddy sagen würde«, warnte Vera sie. »Und wenn du damit anfangen willst, darf ich dich daran erinnern, dass ausgerechnet du nicht in der Position bist, mich zu verurteilen.«
    »Ich weiß nicht, was …«
    »Oh, du weißt genau, was ich meine. Beschimpf mich, so viel du willst. Du bist keine Heilige, Lorraine. Denk nicht, dass ich nicht weiß, was da in deiner Garage vorgeht.«
    Dann hörte Reggie das unverkennbare Geräusch einer Hand, die ein Gesicht schlägt, und ein kleines grunzendes Geräusch.
    Schritte kamen auf sie zu. Reggie blickte sich wild in der Küche um – konnte sie sich irgendwo verstecken? Doch dann war Lorraine in der Küche.
    »Regina«, sagte sie mit bebender Stimme. Lorraines Gesicht war blass. Sie trug die alte Fischerweste und den Hut. Reggie erstarrte, wartete darauf, was als Nächstes passieren würde. Lorraine blickte Reggie einen Augenblick lang an, ging dann weiter, durch die Küche, den Flur entlang und aus der Vordertür. Reggie schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie Lorraine die Einfahrt überquerte und die Garage betrat.
    Was tat Lorraine in der Garage, abgesehen vom Fliegenbefestigen fürs Forellenfischen?
    Reggie ging in das Wohnzimmer und fand ihre Mutter, die auf der Couch saß, ihre Hand auf ihrer Wange. Sie trug ein glänzendes blaues Kleid, das Reggie noch nie vorher gesehen hatte.
    »Hey«, sagte Reggie. »Geht es dir gut?«
    »Großartig«, sagte Vera zu ihr. »Einfach großartig.« Sie nahm ihre Hand von ihrer Wange, und Reggie sah, dass sie leuchtend rot war.
    Reggie sah weg, hinab auf ihre Turnschuhe, die mit geschnittenem Gras bedeckt waren, und spielte verlegen an ihrem neuen Ohr.
    Reggie war immer ein ruhiges Kind gewesen, selbst in Anwesenheit ihrer eigenen Familie, und der Grund dafür war zum Teil, dass sie nie wusste, was sie sagen sollte. Worte fielen ihr nicht leicht, sie waren eher Stolpersteine als Verbindungslinien. Und erst später, nachträglich, wenn sie Unterhaltungen spät abends noch einmal in ihrem Kopf durchspielte, fand sie die richtigen Worte – ein grausamer Scherz. Zu wenig, zu spät.
    Jetzt, als sie zusah, wie ihre Mutter ihre kaputte Hand wieder an ihre gerötete Wange hob, musste Reggie etwas sagen, was den Bann brechen würde. Doch selbst als sie ihren Mund öffnete und fühlte, wie die Worte herauskamen, wurde ihr wieder einmal klar, dass sie das Falsche sagte.
    »Candace Jacques ist tot«, erzählte Reggie.
    »Was?«, fragte ihre Mutter, bewegte ihre vernarbte Hand weg von ihrem Gesicht, legte sie vorsichtig auf ihren Schoß, unter ihre linke Hand.
    »Sie haben ihre Leiche heute Morgen vor der Bibliothek gefunden. Sie wurde erwürgt. Genau wie Andrea McFerlin.«
    Sobald sie das Gesicht ihrer Mutter sah, traf es sie härter als jemals zuvor: Das war das wirkliche Leben, und Candace Jacques war eine wirkliche Person gewesen – eine Frau, die Burger mit Zwiebeln aß und sich am Ende einer langen Schicht die Zeit nahm, ein Stück Kuchen für ihre Mutter einzupacken. Sie war nicht bloß eine Geschichte in den Nachrichten, sondern eine tatsächliche Person. Reggie verstand plötzlich, warum Tara zu Andrea McFerlins Haus geradelt war, warum sie diesen kleinen pinkfarbenen Barbie-Schuh überall hin mitnahm. Es war der Beweis. Der Beweis, dass diese Frau, jenseits des Farbfotos auf der ersten Seite des Hartford Examiner, existiert hatte.
    »Mein Gott«, war alles, was Vera sagte, und die Tränen begannen zu fließen. Dann wandte sie sich ab und verließ den Raum, stieg die dunklen Holzstufen ihres misslungenen Schlosses hinauf.

13 16. Oktober 2010 – Brighton Falls, Connecticut
    ICH MACHE MIR NICHT WIRKLICH etwas aus Pizza«, sagte Lorraine zum dritten Mal, als sie finster auf das blickte, was von dem Stück auf ihrem Teller noch übrig war.
    »Nun, wir mussten etwas essen, oder nicht?«, blaffte Reggie, insgeheim ein wenig erleichtert, dass Lorraine die Fische in Brand gesetzt hatte, die sonst von ihrem Teller aus mit grausigen kleinen Augäpfeln zu ihnen hinaufgespäht hätten. »Und Mom scheint es zu genießen.«
    Vera saß aufrecht im Bett und aß ihr zweites Stück. Das Sanitätshaus hatte ein elektrisches Krankenhausbett geliefert, eine Gehhilfe und einen Nachttischschrank, und hatte alles in Veras altem Schlafzimmer aufgebaut. Reggie und Lorraine hatten zwei Esszimmerstühle nach oben gezerrt und aßen jetzt fettige Pizza vom Bringdienst von guten Porzellantellern, die sie auf dem Schoß balancierten.

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