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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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lange und trank noch länger in The Ring, einer kleinen Transvestitenbar, in die ihn Odell vor beinahe zwei Jahrzehnten zum ersten Mal mitgenommen hatte. Zweifellos war es die Absicht seines Führers gewesen, Weltgewandtheit zu demonstrieren, indem er seinem ungeschlachten Partner die Dekadenz von Berlin vorführte, aber Ballard hatte sich hier, obwohl er keinerlei sexuelle Erregung in Gesellschaft der Kunden von The Ring verspürte, auf der Stelle zu Hause gefühlt.
    Seine Neutralität wurde respektiert, niemand unternahm einen Versuch, ihn zu belästigen. Er konnte einfach dasitzen und die vorübergehende Parade der Geschlechter beobachten.
    Daß er heute nacht hierherkam, beschwor den Geist von Odell herauf, dessen Name jetzt aus Unterhaltungen getilgt werden würde, weil er in die Affäre Mironenko verwickelt war.
    Ballard hatte diesen Prozeß schon früher wirken gesehen. Die Geschichte verzeiht kein Scheitern, es sei denn, man fällt so tief, daß man eine gewisse Würde bekommt. Für die Odells dieser Welt – ambitionierte Männer, die sich unverschuldet in Sackgassen wiederfinden, aus denen jeder Rückweg versperrt ist –, für solche Männer werden weder edle Worte gesprochen noch Orden gezückt. Für sie gibt es nur Vergessenheit.
    Es machte ihn melancholisch, darüber nachzudenken, und er trank viel, damit seine Gedanken heiter blieben, aber als er – um zwei Uhr in der Frühe – auf die Straße hinausging, waren seine Depressionen nur geringfügig betäubt. Die guten Bürger von Berlin waren in den Betten; morgen war wieder ein Arbeitstag. Nur der Verkehrslärm vom Kurfürstendamm war ein Zeichen von Leben in der Nähe. Er ging mit verschwommenen Gedanken darauf zu.
    Hinter ihm Gelächter. Ein junger Mann – prunkvoll wie ein Starlet gekleidet – tapste Arm in Arm mit seiner ernsten Begleitung über das Trottoir. Ballard erkannte in dem Transvestiten einen Stammgast der Bar wieder. Sein Kunde war, dem seriösen Anzug nach zu urteilen, von außerhalb und stillte seinen Durst auf solche Knaben hinter dem Rücken seiner Frau. Ballard ging schneller. Das Gelächter des jungen Mannes, dessen melodischer Tonfall erzwungen war, machte ihn nervös.
    Er hörte jemanden in der Nähe laufen, sah im Augenwinkel die Bewegung eines Schattens. Höchstwahrscheinlich sein Wachhund. Obwohl Alkohol seine Instinkte träge gemacht hatte, spürte er, wie ein wenig Angst in ihm hochstieg, über deren Ursprung er sich aber nicht im klaren war. Er ging weiter. Ein federleichtes Kribbeln lief über seine Kopfhaut.
    Ein paar Meter weiter bemerkte er, daß das Gelächter hinter ihm auf der Straße aufgehört hatte. Er sah über die Schulter und rechnete fast damit, den Jungen und seinen Kunden in einer Umarmung zu sehen. Aber beide waren verschwunden. Sie waren zweifellos in eine Toreinfahrt geschlüpft, um ihre Abmachung im Schutze der Dunkelheit zu vollziehen. Irgendwo in der Nähe hatte ein Hund wild zu bellen angefangen. Ballard drehte sich um und sah in die Richtung, aus der er gekommen war, als wolle er die verlassene Straße herausfordern, ihm ihre Geheimnisse zu offenbaren. Was immer das Summen in seinem Kopf und das Jucken der Handflächen auslöste, gewöhnliche Angst war es nicht. Mit dieser Straße stimmte etwas nicht, trotz der unschuldigen Szenerie. Sie verbarg Schrecken.
    Die hellen Lichter des Kurfürstendamms waren nicht mehr als drei Minuten entfernt, aber er wollte dem Geheimnis hier nicht den Rücken zukehren und dort Zuflucht suchen. Statt dessen ging er langsam in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Der Hund hatte sein warnendes Bellen eingestellt und war verstummt; nur Ballards Schritte leisteten ihm Gesellschaft.
    Er kam zur ersten Kreuzung und besah sich die Seitenstraße.
    In keinem Fenster, keiner Tür brannte Licht. Er konnte kein lebendes Wesen in der Düsternis spüren. Er überquerte die Seitenstraße und ging weiter. Ein üppiger Geruch erfüllte die Luft, der noch durchdringender wurde, als er sich der nächsten Straßenecke näherte. Als er ihn einatmete, schwoll das Summen in seinem Kopf beinahe zum Donnern an.
    Ein einziges Licht brannte im Schlund der Gasse, spärlicher Schein von einem der oberen Fenster. Dadurch konnte er den Leichnam des Auswärtigen sehen, der auf dem Boden lag. Er war so gräßlich verstümmelt, daß es schien, als hätte man versucht, sein Innerstes nach außen zu kehren. Der durchdringende Geruch stieg in seiner ganzen Vielfalt von den verstreuten

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