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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Eingeweiden auf.
    Ballard hatte schon oft eines gewaltsamen Todes gestorbene Menschen gesehen und dachte, er wäre dem Schauspiel gegenüber gleichgültig. Aber etwas in dieser Seitenstraße hier machte seine Ruhe zunichte. Er spürte, wie er an allen Gliedern zu zittern anfing. Und dann ertönte aus der Dunkelheit hinter dem Lichtschein die Stimme des Jungen.
    »In Gottes Namen…« sagte er. Seine Stimme hatte jede vorgetäuschte Weiblichkeit verloren. Es war das Murmeln

unverhohlenen Entsetzens.
    Ballard machte einen Schritt in die Nebenstraße hinein.
    Weder der Junge noch der Grund für sein geflüstertes Gebet wurden sichtbar, bis er zehn Meter weit gegangen war. Der Junge war halb zwischen Mülltonnen an der Wand herabgesunken. Ziermünzen und Taft hatte man ihm heruntergerissen, sein Körper war blaß und geschlechtslos. Er schien Ballard nicht zu bemerken, sein Blick war auf die dunkelsten Schatten gerichtet.
    Ballards Zittern wurde schlimmer, als er dem Blick des Jungen folgte. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Er ging dennoch weiter, nicht wegen des Jungen (man hatte ihm stets beigebracht, daß sich Heldenmut nicht auszahlt), sondern weil er neugierig war, mehr als neugierig, weil er darauf brannte zu sehen, welch ein Mensch solch beiläufiger Brutalität fähig war. Einer solchen Wildheit ins Auge zu sehen schien momentan das Wichtigste auf der Welt zu sein.
    Jetzt sah ihn der Junge und stieß ein erbarmenswertes Flehen hervor, aber Ballard hörte ihn kaum. Er spürte andere Blicke auf sich, und deren Berührung war wie ein Hammerschlag. Das Toben in seinem Kopf nahm einen schwindelerregenden Rhythmus an, dem Lärm von Hubschrauberrotoren nicht unähnlich. Es schwoll innerhalb von Sekunden zu einem alle Sinne betäubenden Dröhnen an.
    Ballard drückte die Hände gegen die Augen und taumelte rückwärts gegen die Mauer. Nur am Rande bekam er mit, daß der Killer aus seinem Versteck kam (umgestürzte Mülleimer)
    und einen Fluchtversuch unternahm. Er spürte, wie ihn etwas streifte, und machte die Augen gerade noch rechtzeitig auf, um den Mann zu sehen, der die Gasse entlang floh. Er schien irgendwie mißgestaltet zu sein, der Rücken bucklig, der Kopf viel zu groß. Ballard rief ihm etwas nach, aber der Berserker lief weiter und hielt nur einmal kurz inne, um auf die Leiche hinabzusehen, bevor er die Straße erreichte.
    Ballard stemmte sich von der Wand ab und stand aufrecht.
    Der Lärm in seinem Kopf ließ etwas nach, die damit verbundene Benommenheit klang ab.
    Der Junge hinter ihm fing an zu schluchzen. »Haben Sie das gesehen?« fragte er. »Haben Sie das gesehen? «
    »Wer war das? Kennst du ihn?«
    Der Junge sah Ballard wie ein verängstigtes Reh an, seine geschminkten Augen waren weit aufgerissen.
    »Ob ich ihn… ?«
    Ballard wollte seine Frage gerade wiederholen, als Bremsen quietschten, dicht gefolgt vom Knall des Aufpralls. Er ließ den Jungen zurück, damit dieser sein zerfetztes trousseau um sich schlingen konnte, und lief wieder auf die Straße zurück. In der Nähe wurden Stimmen laut; er eilte zu ihrem Ursprung. Ein großes Auto stand mit grellen Scheinwerfern schräg auf dem Gehweg. Dem Fahrer wurde aus dem Sitz geholfen, während die Passagiere – Partygäste, wenn man der Kleidung und den vom Alkohol geröteten Gesichtern glauben wollte – herumstanden und wild darüber debattierten, wie es zu dem Unfall gekommen war. Eine der Frauen sprach von einem Tier auf der Straße, aber einer der anderen Passagiere verbesserte sie. Der Leichnam, der nach dem Aufprall nun im Rinnstein lag, war nicht der eines Tieres.
    Ballard hatte wenig von dem Killer in der Nebenstraße gesehen, aber er wußte instinktiv, daß es er war. Von der Mißbildung, die er zu sehen geglaubt hatte, war jedoch nichts zu erkennen. Es war nur ein Mann in einem Anzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, und er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache. Die Polizei war bereits eingetroffen, und einer der Beamten rief ihm zu, von der Leiche fernzubleiben, aber Ballard achtete nicht auf den Befehl, sondern ging näher heran, damit er sich das Gesicht des Toten anschauen konnte. Von der Wildheit, die er so gerne gesehen hätte, keine Spur. Aber er erkannte dennoch eine ganze Menge wieder.
    Der Mann war Odell.
    Er sagte ihnen, daß er von dem Unfall nichts gesehen habe, was der Wahrheit entsprach, und entfernte sich vom Ort des Geschehens, bevor die Vorfälle in der Nebenstraße

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