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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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entdeckt wurden.
    Es schien, als werfe jede Ecke, um die er auf dem Rückweg in sein Zimmer bog, eine neue Frage auf. An erster Stelle: Weshalb hatte man ihn hinsichtlich von Odells Tod belogen? Und welche Psychose hatte der Mann entwickelt, daß er eines Gemetzels fähig war, wie Ballard es gesehen hatte? Er würde die Antworten auf diese Fragen nicht von seinen ehemaligen Kollegen bekommen, das wußte er. Der einzige Mann, dem er vielleicht eine Antwort hätte entlocken können, war Cripps. Er erinnerte sich an die Unterhaltung über Mironenko, die sie geführt hatten, und Cripps’ Worte von »Grund zur Vorsicht«, wenn es um den Russen ging. Glasauge hatte gewußt, daß etwas im Busch war, aber sicher hatte nicht einmal er sich das Ausmaß der jetzigen Katastrophe vorstellen können. Zwei äußerst fähige Agenten ermordet; Mironenko vermißt, möglicherweise tot; er selbst – wenn man Suckling glauben konnte – auf der Schwelle des Todes. Und alles hatte mit Sergej Sacharowitsch Mironenko, dem Verlorenen von Berlin, angefangen.
    Es schien, als wäre seine Tragödie ansteckend.
    Morgen, beschloß Ballard, würde er Suckling finden und ein paar Antworten aus ihm herauspressen. Vorläufig taten sein Kopf und die Hände weh, und er wollte schlafen. Müdigkeit beeinträchtigte die Fähigkeit, ein klares Urteil zu fällen, und wenn er auf diese Fähigkeit angewiesen war, dann jetzt. Aber trotz seiner Erschöpfung floh ihn der Schlaf eine Stunde oder länger, und als er schließlich kam, brachte er keinen Trost. Ballard träumte von geflüsterten Worten, dicht gefolgt, als wollte es sie übertönen, das Dröhnen der Hubschrauber. Zweimal erwachte er mit pochenden Kopfschmerzen aus dem Schlaf, zweimal trieb ihn die Gier, den Sinn des Flüsterns zu erfahren, wieder auf das Kissen zurück. Als er zum dritten Mal erwachte, war der Lärm zwischen seinen Schläfen unerträglich, ein das Denken auslöschender Überfall, der ihn um seine geistige Gesundheit fürchten ließ. Als er aus dem Bett kroch, konnte er vor lauter Schmerzen das Zimmer kaum noch erkennen.
    »Bitte…« murmelte er, als wäre jemand da, der ihn von seinem Elend erlösen konnte.
    Eine kühle Stimme antwortete ihm aus der Dunkelheit: »Was willst du? «
    Er erkundigte sich nicht nach dem Sprecher, sagte nur:
    »Nimm die Schmerzen weg.«
    »Das kannst du selbst « , entgegnete die Stimme.
    Er lehnte sich an die Wand, strich sich über den zu bersten drohenden Kopf, und die Tränen des Schmerzes wollten nicht aufhören. »Ich weiß nicht, wie«, sagte er.
    » Deine Träume bereiten dir diese Schmerzen « , antwortete die Stimme, » daher mußt du sie vergessen. Verstehst du? Vergiß sie, und die Schmerzen werden aufhören. «
    Die Anweisung war ihm klar, aber nicht, wie er sie in die Tat umsetzen sollte. Im Schlaf hatte er nicht die Macht zu handeln.
    Er war der Spielball des Flüsterns, nicht das Flüstern seiner.
    Aber die Stimme war beharrlich. » Der Traum will dir
    schaden, Ballard. Du mußt ihn begraben. Tief begraben. «
    »Ihn begraben?«
    » Mach dir ein Bild davon, Ballard. Stell es dir in allen
    Einzelheiten vor. «
    Er tat wie ihm geheißen. Er stellte sich eine Trauergemeinde, vor und einen Sarg, und in diesem Sarg seinen Traum. Er ließ sie tief graben, wie es ihm die Stimme befahl, damit er dieses Schmerzen bereitende Ding niemals wieder hervorholen konnte. Doch noch während er sich vorstellte, wie der Sarg in das Grab gesenkt wurde, hörte er die Bretter knirschen. Der Traum wollte sich nicht zur Ruhe legen. Er hämmerte gegen sein Gefängnis. Die Bretter fingen an zu splittern.
    » Schnell! « sagte die Stimme.
    Der Lärm der Rotoren war auf einen schrecklichen Pegel angestiegen. Blut troff ihm aus den Nasenlöchern. Er schmeckte Salz im Hals.
    » Bring es zu Ende! « schrie die Stimme über das Getöse hinweg. » Deck ihn zu! «
    Ballard sah in das Grab hinunter. Der Sarg hüpfte von einer Seite zur anderen. » Deck ihn zu, verdammt! «
    Er versuchte, die Trauergemeinde zum Gehorsam zu zwingen. Sie sollten Schaufeln in die Hände nehmen und das beleidigende Ding lebendig begraben, aber das taten sie nicht. Statt dessen sahen sie in das Grab hinunter, so wie er, und verfolg-ten, wie der Inhalt des Sarges darum kämpfte, ans Licht zu gelangen.
    » Nein!« befahl die Stimme mit wachsendem Zorn. » Du darfst nicht hinsehen! «
    Der Sarg tanzte im Grab. Der Deckel barst. Ballard konnte ganz kurz etwas erkennen, das zwischen den Brettern

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