Das 9. Urteil
nickte und sagte: »Ausgezeichnet. Wo wohnen denn Ihre Eltern?«
»Meine Mutter war alleinerziehend. Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Was soll ich denn jetzt machen, Sergeant?«
Die Tür zum Verhörzimmer ging auf, und Agent Benbow kehrte zurück. Er besaß einen präzisen Kurzhaarschnitt und eine militärische Haltung, aber sein Gesichtsausdruck war mitfühlend, fast schon freundlich. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches.
»Heidi, Sie haben doch bestimmt schon einmal den Begriff Zeugenschutzprogramm gehört«, sagte er dann. »Wir möchten Sie und Ihre Kinder darin aufnehmen. Sie bekommen neue Papiere mit neuen Namen, eine neue Identität, und man wird Ihnen eine neue Wohnung zur Verfügung stellen.«
»Aber ich bin als Zeugin total nutzlos. Ich weiß doch gar nichts.«
»Sie sind ins Visier von Pete Gordon geraten, und wir haben schon Leute aus weit geringerem Anlass ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Sie müssen sich von uns beschützen lassen, Heidi. Und wenn wir ihn finden, dann geben Sie eine sehr gute Zeugin ab. Er ist Ihnen gegenüber schon gewalttätig geworden. Das können Sie aus erster Hand aussagen.«
In Heidis Kopf purzelten die unterschiedlichsten Gedanken durcheinander. Benbow hatte ihr gerade eröffnet, dass ihr Leben als Heidi Meyer zu ihrem eigenen Schutz zu Ende war. Dass sie um der Sicherheit ihrer Kinder willen verschwinden, ihr gesamtes Leben auslöschen und als neuer Mensch völlig neu anfangen musste. Das war doch eigentlich absolut unfassbar.
Nur durch Sarah konnte das Ganze irgendwie erträglich werden.
Heidi erzählte Sergeant Boxer und Agent Benbow von Sarah Wells, ihrer engen Freundin und Vertrauten, Stevies Patentante. Und sie blieb hart. Sarah musste mit in das Programm aufgenommen werden.
Benbow machte ein besorgtes, vielleicht auch verärgertes Gesicht. »Das ist riskant, Heidi. Falls Sarah mit ihrem Mann oder sonst irgendjemandem aus ihrem Bekanntenkreis Kontakt aufnimmt, dann schweben Sie und die Kinder in Lebensgefahr.«
»Ich vertraue Sarah. Ich stehe ihr sehr nahe. Sie ist meine einzige wirkliche Angehörige.«
Benbow trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und sagte schließlich: »Einverstanden. Wir lassen Sie in ein sicheres Haus bringen, solange die Vorbereitungen laufen. Sie müssen aber wirklich sofort verschwinden, Heidi. Keine Telefonate. Keine Verabschiedungen. Sie können nichts mitnehmen, bis auf die Sachen, die Sie am Leib tragen.«
Heidi war vollkommen überwältigt angesichts dieses plötzlichen und totalen Bruchs mit ihrer Vergangenheit – und angesichts der Vorstellung einer Zukunft ohne Pete. Wie es wohl sein würde, ein Leben ohne Angst und vereint mit Sarah, bei Tag und Nacht?
Endlich konnten sie alle ein richtiges Leben führen.
Heidis Augen wurden feucht, und Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie legte das Gesicht in beide Hände und ließ ihnen freien Lauf. Als sie wieder reden konnte, sagte sie zu Boxer und Benbow: »Danke, vielen Dank. Gott segne Sie. Danke.«
104
Ich trat zusammen mit Heidi auf die Straße. Sie blickte mich aus verquollenen Augen an, immer noch wie benommen, und sagte: »Ich weiß gar nicht, wie ich das den Kindern beibringen soll.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie die richtigen Worte finden werden. Heidi, ist Ihnen klar, was als Nächstes geschehen wird?«
»Wir verbringen die Nacht in einem sicheren Haus des FBI in L. A. Währenddessen werden alle möglichen Vorbereitungen getroffen und dann fliegen wir …«
»Sagen Sie mir nicht, wohin Sie gehen. Sagen Sie es niemandem.«
»Wir werden einfach vom Erdboden verschluckt.«
»Ganz genau. Ist das Ihre Freundin Sarah?«, erkundigte ich mich, als ein roter Saturn am Straßenrand hielt.
»Ja. Das ist sie.«
Heidi ließ mich stehen und beugte sich durch das Beifahrerfenster in das Wageninnere. Sie sprach mit der Fahrerin und wandte sich dann an mich: »Sergeant Boxer, das ist meine Freundin, Sarah Wells.«
Sarah war hübsch und braunhaarig, Ende zwanzig, trug kein Make-up, aber dafür übergroße Kleidung. Sie legte einen rosaroten Gummiball auf den Sitz und reichte mir eine beeindruckend kräftige Hand. Sie sagte: »Wie schön, dass ich Sie endlich kennenlerne. Vielen Dank für alles.«
Ihr Blick war irgendwie seltsam, fast so, als hätte sie Angst vor mir. War sie vielleicht schon einmal mit der Polizei in Konflikt geraten?
»Endlich?«
»Ich meine, weil Sie doch Stevie gefunden haben.«
»Ach, natürlich.«
Stevie saß im Kindersitz auf der
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