Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
steinernen Miene desjenigen, der
Tag für Tag mit den schlimmsten Auswüchsen menschlicher Verderbtheit
konfrontiert ist. Owsley geleitete sie durch Korridore und Durchgänge, deren
schmuddelige Wände vor Nässe, Schimmel und altem Schmutz trieften, vorbei an
unzähligen Zellen mit jeweils nur einem Insassen; Stöhnen und Jammern erfüllte
die Luft und raubte einem den Atem wie giftige Rauchschwaden. Einige der
Häftlinge starrten zwischen den Gitterstäben ihrer Käfige hindurch auf die
Eindringlinge, andere wimmerten lauthals oder zischelten Obszönitäten hinaus,
aber die meisten lungerten reglos in ihrem eigenen Unrat, zu schamlos und
abgestumpft, um darauf zu achten: Sie hatten sich einfach abgefunden mit ihrem
unmittelbar bevorstehenden Rendezvous mit dem Galgen. Die Luft war feuchtkalt
und dumpf, und je weiter die vier Männer ins Innere der Gewölbe vordrangen,
desto öfter flitzten kleine Pelzdinger mit spitzen Zähnen zwischen ihren Füßen
hindurch.
    Zweifellos denken Sie jetzt, ich
übertreibe und male die Wahrheit in grelleren Farben um der dramatischen
Wirkung willen –, denn selbst damals, so vermuten Sie vielleicht, können
die Zustände in unseren Zuchthäusern nicht ganz so mittelalterlich gewesen
sein. Aber so sehr es mich schmerzt, ich muss bekennen, dass Obengesagtes eine
durch und durch ehrliche und in allem zutreffende Schilderung des Zustands von
Newgate während der letzten Jahre seines Bestehens darstellt. Wenn überhaupt,
so habe ich meine Beschreibung abgemildert, um die Empfindsamkeit von Damen zu
schonen, welche vielleicht diese Niederschrift unbesonnenerweise zur Hand
nahmen, sowie für all jene von Ihnen, die unter einer nervenschwachen oder
hysterischen Veranlagung leiden.
    Der Schlafwandler gab Merryweather
einen nachdrücklichen Stoß in die Rippen und deutete mit dem Kinn auf Owsley,
der vor ihnen hermarschierte, wobei sein langer Zopf bei jedem Schritt neckisch
auf und ab hüpfte.
    »Meyrick Owsley«, erläuterte der Inspektor.
»Ehemaliger Anwalt – und ein guter noch dazu. Am Kanzleigericht war er der
Beste, bevor er Barabbas kennenlernte. Und nun ist er, soweit man es beurteilen
kann, zu seinem Diener abgesunken.«
    Owsley musste es gehört haben, denn er drehte sich
um und warf Merryweather einen gerissenen Blick zu. »Mehr noch, Inspektor«,
sagte er, Inbrunst und Überzeugung in den weit aufgerissenen Augen, »ich bin
sein
Jünger

    Merryweather räusperte sich verlegen. »Verzeihung,
mein Fehler.«
    Am hintersten Ende des Korridors blieben sie vor
der letzten Zelle stehen. Sie war winzigklein, kahl und nur schwach erhellt von
einem Kerzenstumpf. Die Gestalt darin war kaum auszumachen – ein
formloses, schwarzes Etwas, zusammengesackt in einem Winkel. Und dann hörten
sie die Stimme – halb Krächzen, halb Flüstern: »Meyrick?«
    Owsley machte eine kleine Verbeugung. »Sir, ich
habe Ihnen eine Zigarette mitgebracht.« Er reichte etwas zwischen den
Eisenstäben hindurch. Schmutzstarrende Finger tappten im Halbdunkel danach, und
dann wurde die Zelle vom Aufflammen eines Streichholzes erhellt, bevor das
schwache Glühen der Zigarette dem Dunkel ein zweites Lichtpünktchen bescherte.
    Besuchszeit im Zoo
, dachte Merryweather,
der erst in der vorangegangenen Woche mit seiner Frau und den fünf Kindern das
ruhelose Hin- und Herwandern eines bengalischen Tigers hinter den Gitterstäben
seines Käfigs beobachtet hatte.
    Wieder die Stimme – rauh und heiser, und dennoch
mit einer letzten unüberhörbaren Andeutung, dass sie einst einem durchaus
vernünftigen, normalen, zivilisierten Mann gehört hatte. »Ist er hier?«
    »Jawohl, Sir«, flüsterte Meyrick Owsley zurück.
    Es lag etwas beinahe Liebevolles in der Art, wie
Owsley mit dem Gefangenen sprach, bemerkte der Inspektor – beinahe wie
eine Mutter mit ihrem Kind oder eine Frau mit ihrem Liebsten.
    Der Mann in der Zelle krächzte wieder etwas, aber
so leise, dass es niemand verstand. Ausgenommen Owsley, natürlich.
    »Barabbas will nur Sie sprechen, Mister Moon. Die
anderen Herren werden ersucht, am Tor zu warten.«
    »Ausgezeichnet«, sagte Moon rasch.
    Merryweather fühlte sich bemüßigt, zumindest so
etwas wie den Anschein eines Protests einzulegen. »Als Polizeibeamter sollte
ich dabei zugegen sein.«
    »Bitte, Inspektor! Dies ist wichtig!«, beharrte
Moon.
    »Verdammt vorschriftswidrig, das alles.«
    »Aber nur auf diese Weise will er mit mir reden!«
    Erleichtert gab Merryweather sich geschlagen.

Weitere Kostenlose Bücher