Das Albtraumreich des Edward Moon
Kopfes
entfernt war, erschien ein Wort aus drei Buchstaben.
Der junge Mann las es laut. »Lud!«, schrie er auf.
»Der Gründer Londons! Der König der Stadt!«
»Unmöglich!«, rief einer der Männer.
»Ich kann es nicht glauben!«, ein anderer.
»Lud?« Aufmerksam verfolgte Moon, wie der Rest des
harten Erdreiches weggebürstet wurde, und gewann das sichere,
schwindelerregende Gefühl, bereitwillig in eine Falle getappt zu sein. Die
Gesichtszüge des Kopfes traten deutlicher hervor – etwas Beklemmendes,
wenngleich Wohlbekanntes, das unerbittlich immer klarer sichtbar wurde. Als
sich das Antlitz schließlich zu erkennen gab, schnappten einige der Anwesenden
nach Luft.
»Ach ja«, erinnerte sich der Alte mit verspätetem
Misstrauen. »Für welche Zeitung, sagten Sie, schreiben Sie?«
Moon ignorierte ihn. »Das kann nicht sein«,
murmelte er.
Der Bronzekopf war jetzt sauber, die Schleier der
Geschichte waren weggewischt, um – voller Kalkablagerungen zwar, doch
ansonsten perfekt erhalten – ein Bildnis des ersten Königs von London zu
zeigen. Lud war enthüllt.
Und Edward Moon konnte nur hilflos darauf
hinabblicken; er biss sich heftig auf die Unterlippe, um nicht laut
aufzuschreien, als die unverwechselbaren, hässlichen Gesichtszüge Thomas Cribbs
ausdruckslos über die Jahrhunderte hinweg zurückstarrten.
Als Moon zum Hotel zurückkehrte, traf
er Mister Speight auf der Straße davor an, der dort schon auf ihn wartete. Der
Vagabund war wie gewohnt in seinen schmutzigen Anzug gekleidet, aber sein
Gesicht war mit frischen wunden Stellen bedeckt, die sich nur zum Teil unter
seinem struppigen Bart verbargen. Eine Flasche mit etwas Gelbem darin lugte aus
seiner Jackentasche hervor, und vor sich hatte er sein Markenzeichen
aufgestellt, das Schild mit der Aufschrift:
JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20
»Tag, wünsche ich!«, sagte er –
gut gelaunt, aber noch nicht ganz betrunken. Der Türsteher des Hotels warf ihm
einen giftigen Blick zu, was Speight mit einem Nicken quittierte. »Der versucht
schon stundenlang, mich da wegzuscheuchen.«
»Was wollen Sie denn hier?« Moon war immer noch
wie vor den Kopf geschlagen und nahezu überzeugt, dass es sich bei dem Mann vor
ihm um ein Trugbild handelte.
»Ich habe Sie aufgespürt!«, sagte Speight stolz.
Moon kniff kurz die Augen zusammen, immer noch
etwas im Zweifel, dass dieser Dialog tatsächlich stattfand. »Was kann ich für
Sie tun?«
»Um ehrlich zu sein … es ist das Geld.
Seitdem das Theater … Jetzt habe ich kein Plätzchen zum Schlafen mehr. Alles
ist viel schwieriger geworden. Sie waren immer so freundlich zu mir …«
Moon unterbrach ihn mit einer Handbewegung, griff
in die Jackentasche und hielt dem Mann eine Pfundnote hin. »Hier. Investieren
Sie es mit Bedacht.«
»Eigentlich«, gab Speight unumwunden zu, »werde
ich es nur für Schnaps ausgeben.«
Moon ging langsam an ihm vorbei die Treppe zum
Hoteleingang hoch. »Offen gesagt, Mister Speight, würde ich mich Ihnen dabei im
Moment liebend gern anschließen.«
»Geht’s Ihnen nicht gut?« Speight schien aufrichtig
besorgt.
»Ist es Ihnen je widerfahren, dass alles, woran
Sie zeitlebens geglaubt haben, in ein paar Stunden zusammenfällt wie ein
Kartenhaus?«
»Könnte ich eigentlich nicht sagen, nein, Sir.«
»Haben Sie je zugesehen, wie sich alle Vernunft
und Logik vor Ihren Augen in Luft auflösen?«
»Wiederum nein, Sir. Könnte ich nicht behaupten.«
»Wurden Sie je durch die schiere Unmöglichkeit der
Wahrheit in eine akute Lebenskrise gestürzt?«
Der Bettler betrachtete Moon mit einem langen,
verlegenen Blick. »Vielleicht sollten Sie sich nur mal aufs Ohr legen, Sir.
Danke vielmals für das Geld.«
Mit einem schweren Seufzer trat Moon durch die
Tür.
Sechs Stunden später, als er
zusammengesunken an einem Tisch im hintersten Winkel der Hotelbar saß, sah Moon
mit getrübtem Blick Arthur Barge friedlich vorbeispazieren. Der Detektiv
krümmte den Finger und winkte ihn näher. »Mister Barge?«
Die menschliche Teekanne mit den zwei Henkeln
strahlte. »Einen guten Abend wünsche ich!« Er eilte auf Moon zu, wobei er über
einen aus der Reihe tanzenden Barhocker stolperte.
»Ich wünsche«, sagte Moon mit jenem gewichtigen,
würdevollen Ernst, der so charakteristisch ist für einen Mann, der schwer
geladen hat, »ein Wörtchen mit Ihnen zu reden.«
»Ich nehme an, es ist wegen Mrs Grossmith und mir.
Sie ist eine prachtvolle Frau, Sir. Eine echte Dame. Aber lustig
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