Das Albtraumreich des Edward Moon
Hochwassermarke meines Lebens dar.
Nichts davor oder danach hat herangereicht. Es war der Tod meines alten Ichs,
die Geburt von Barabbas.«
»Das ist längst Geschichte«, erinnerte ihn Moon.
»Ich bin gekommen, um über die Zukunft zu sprechen.«
»Du magst eine Zukunft haben. Ich nicht. Immerhin
bleibt mir eine kleine Befriedigung.«
»Und zwar?«
»Letzten Endes war ich froh, dass du es warst, der
mich gefasst hat«, flüsterte Barabbas.
Moon seufzte. »Du warst ein würdiger Gegner. Der
letzte würdige Gegner. Danach musste ich mich nur mehr mit Nullen abgeben. Mit
drittklassigen Hochstaplern, Mördern, die nicht gerade schießen können,
Möchtegernbankräubern, die sich in Abwasserkanäle wühlen.«
Barabbas grinste. »Von dem habe ich auch gehört.«
»Ich wollte, ich könnte mich an seinen Namen
erinnern«, sagte Moon zerstreut. »Ich nehme nicht an, dass du …?«
Barabbas schüttelte flüchtig den Kopf. »Du warst
bei Mrs Bagshaw?«
»Das weißt du?«
»Natürlich.«
»Sie ist eine Schwindlerin«, warf Charlotte streng
ein.
»Es ist klar, dass du das sagst. Als ergebenes
Mitglied des Sicherheitsausschusses war nichts anderes von dir zu erwarten. Ich
muss sagen, Edward, du ignorierst die Warnungen der Madame auf eigene Gefahr!«
»Was ist es nur, das du mir nicht sagen willst?«
»Der Albtraum steht kurz bevor«, stellte der
Gefangene ruhig fest. »Vier Tage. Das große Verschwinden beginnt bald.«
»Du weißt es, nicht wahr?« Moon klang so, als
hätte er dies bislang nicht so recht geglaubt. »Du weißt tatsächlich, was
vorgeht.«
Barabbas lachte auf. »Beuge dich herab zu mir!«,
sagte er, und Moon schritt hastig zu der Ecke, wo der unförmige Mann lag.
»Natürlich ist man an mich herangetreten«, fuhr der Gefangene fort. »Sie
brauchten einen wie mich. Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen. Sie
haben große Pläne für uns alle, Edward. Es sind Pioniere. Sie wollen die Welt
verändern.«
Er wurde unterbrochen vom nachdrücklichen Rattern
des Schlüssels im Schloss. Die Tür ging auf, und Owsley erschien in der
Öffnung. »Besuchszeit ist vorüber.«
»Besuchszeit?«, brauste Barabbas auf.
Owsley ignorierte seinen Herrn und starrte Moon
mit eisiger Miene an. »Sie müssen gehen.«
»Ich bin noch nicht fertig.«
»Gehen Sie augenblicklich, oder ich wende mich an
die Gefängnisleitung.«
Rasch wühlte Barabbas in seinen Schätzen und zog
ein schmales Büchlein hervor. »Du hast mir ein Geschenk gebracht«, sagte er,
worauf Owsley Moon einen Blick zuwarf, der mühsam beherrschten Zorn verriet.
»Ich möchte dir dafür dies hier überreichen.«
Moon war überrascht. »Was ist das?«
»Die
Lyrischen Balladen
von Samuel Taylor
Coleridge und William Wordsworth.« Er klang wie ein Provinzlehrer, der
einer – poetischen Versen von Natur aus kühl und argwöhnisch
gegenüberstehenden – Schulklasse das dichterische Schaffen des letzten
Jahrhunderts näherbringen will. »Mein treuester Gefährte hier, dieses Büchlein.
Ein Lichtstrahl in dieser finsteren Tiefe. Es hat mir die Augen geöffnet,
Edward. Ich hoffe, es öffnet auch die deinen.«
»Ich danke dir.«
»Edward?« Barabbas klopfte mit dem Finger auf den
Umschlag des Buches. »Frage ihn. Frage den Mann.« Mit diesen Worten schleppte
er sich zu Charlotte und klatschte ihr einen sabbernden Kuss auf die Wange. Sie
zuckte angeekelt zurück, und der Koloss wandte seine Aufmerksamkeit dem Magier
zu, der den Kopf nicht wegdrehte, sondern dem Gefangenen erlaubte, ihn auf jene
verborgene, intime Stelle nackter Haut direkt hinter dem Ohr zu küssen.
Barabbas wisperte etwas, und einen Augenblick lang wirkten beide Männer
unaussprechlich aufgewühlt, ihr Kummer herzzerreißend – ein Gram, jenseits
aller Worte. Charlotte erwartete jeden Moment, die beiden einander in die Arme
fallen zu sehen.
Es war natürlich Owsley, der den Bann brach. »Sie
müssen gehen«, wiederholte er, diesmal noch drängender. Später sollte Edward
anmerken, dass der Mann beinahe ängstlich geklungen hatte.
Als sie sich zum Gehen wandten, heulte Barabbas
gequält auf, die Moons jedoch verließen nacheinander ernst und schweigend die
Zelle.
Sobald die Tür hinter ihnen sorgsam verschlossen
und das Monster in der Schwärze seiner Zelle zurückgelassen war, sagte Owsley
in arrogantem, amtlichem Tonfall: »Vielen Dank für Ihre freundliche
Zusammenarbeit. Ich bin zuversichtlich, dass Sie uns nie wieder belästigen
werden.«
Edward Moon setzte zu einem
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