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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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durchgespielt hatte, nicht vorherzusehen war: »Küss
mich!«
    Meyrick Owsley hatte noch nie zuvor einen Menschen
getötet. Die Übermächtigkeit dieses Gefühls drohte ihn zu erdrücken; er war
gefangen in der trunkenen Erregung seiner eigenen Verwandlung, wie besessen von
der erhebenden Sündhaftigkeit seiner Tat. Zweifellos war es all dem zuzuschreiben,
dass er sich in Sicherheit wiegte, dass er sich für unverwundbar hielt, als er
sich vorbeugte, um Barabbas auf den Mund zu küssen. Triumphierend, berauscht
vom Mord, wollte er sich wieder aufrichten, als er spürte, wie der Sterbende
sich bewegte. Mit einer gewaltigen Hand hielt Barabbas den Kopf seines
einstigen Lakaien fest, mit der anderen griff er nach seinem Hort der Schönheit
und zog Moons Krawattennadel hervor, die er in Erwartung dieses unvermeidlichen
Augenblicks zugefeilt und geschärft hatte. Sein Jünger schlug um sich und
wollte sich losreißen, doch mit einem letzten Aufflackern von Kraft hob
Barabbas die Nadel an Owsleys Kehle und zog sie erbarmungslos von einer Seite
zur anderen. Zufrieden hörte er, wie die Adern mit einem leisen platzenden Laut
zersprangen, und schloss die Augen, bevor ein Schwall Blut auf sein eigenes
Gesicht sprudelte.
    Meyrick Owsley wollte vor Schmerz und hilfloser
Wut aufschreien, brachte jedoch nur ein Gurgeln hervor. Er fiel auf den Mann,
der sein Herr und Meister gewesen war, und so lagen sie beide in einer
grausigen Umarmung da – zwei verschlissene Lumpenbündel, verschnürt für
den Gang in die Unterwelt.
    Unmittelbar bevor er starb, versuchte Barabbas
noch den Namen des Mannes zu flüstern, den er liebte – ein Akt, der ihm
stets als sehr passend für sein Ende erschienen war. Wann immer er sich seinen
eigenen Tod vorgestellt hatte, war dieser stets von einem gewissen Grad an
Pathos begleitet gewesen, um jene Art von einzigartiger und tragischer Szene
entstehen zu lassen, die später einen Künstler dazu inspirieren könnte, sein
Atelier scharlachrot auszumalen oder ein, zwei Klagelieder zu verfassen. Doch
als er nun dalag, an seinem eigenen Blut erstickte und das Leben mit
entsetzlicher Geschwindigkeit aus seinem Leib tropfte, merkte er zu seiner
großen Enttäuschung, dass er zum Sprechen bereits zu schwach war.
    Und so starb der Unhold von Newgate still und
stumm.
    Merryweather und Moon trafen den
Schlafwandler dort an, wo sie ihn zu allererst suchten – in der Schankstube
des »Gewürgten Bengels«. Das Wirtshaus hatte das Feuer überlebt, doch gegenüber
stand noch das Theater als schwarzes, ausgebranntes Gerippe, ein trostloses
Zeugnis für Moons Scheitern.
    Der Detektiv bestellte seinem Freund einen Krug
Milch und fragte so behutsam wie möglich, warum er verschwunden war. Der
Schlafwandler griff nach seiner Tafel.
    SPEIGHT GESEEN
    »Speight?« Merryweather blickte
neugierig über Moons Schulter. »Den Landstreicher?«
    Der Riese nickte.
    »Und wie sah er aus?«, erkundigte sich Moon geistesabwesend.
    ANZUG
    »Er trug einen Anzug?«, fragte Moon
zweifelnd.
    SER SCHIK
    »Bist du sicher?«
    Der Schlafwandler nickte, sichtlich ungehalten.
    BANK
    »Er stand vor einer Bank?«, drängte der
Inspektor.
    Der Schlafwandler schüttelte heftig den Kopf.
    »Er arbeitet in einer Bank?«, fragte Moon
ungläubig.
    Dankbar nickte der Riese.
    Merryweather schnaubte erbost. »Lächerlich.«
    TARNUNG
    »Tarnung?« Moon wollte soeben zu der
Frage ansetzen, was der Freund damit meinte, als von draußen die Stimme eines
Zeitungsjungen hereindrang, der die Schlagzeilen ausrief.
    Als er hörte, wie sie lauteten, stürmte Moon aus
der Schenke und auf die Straße.
    »Grässlicher Mord in Newgate!«, schrie der Junge
wieder. »Der Unhold ist tot!«
    Moon schnappte sich eine Zeitung und blätterte sie
hastig durch. Als seine Freunde bei ihm angelangt waren, sahen sie, dass er
dumpf in das Blatt starrte, wobei ihm Tränen in den Augenwinkeln standen.
Diskret zogen sie sich ein wenig zurück.
    Moon ließ die Zeitung auf das Straßenpflaster
fallen, wo sie in der Folge zertrampelt, zerrissen und durchnässt zur Seite
geschleudert wurde – ein winziges Teilchen im Strandgut der Stadt. Moon
hingegen war mit einem Mal klar, dass die Kräfte des Zufalls dabei waren, sich
gegen ihn zu verschwören. Allein und reglos stand er da – und dann, zu
seiner eigenen Verblüffung, musste er laut auflachen. Es lag keine Heiterkeit
darin, kein wirklicher Frohsinn, doch angesichts all dessen, was passiert war,
erschien es ihm als einzig richtige

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