Das Albtraumreich des Edward Moon
fällt.
VIERZEHN
Berufsmäßige Gehsteigmaler sind eine
moderne Erscheinung. In London entstanden sie, als die Hüter der Gassen und
Straßen der Stadt die Wirtschaftlichkeit von Asphalt der aufwendigen Umständlichkeit
einer Pflasterung vorzuziehen begannen. Zur Zeit von Moons letztem Fall hatte
das holprige, ruppige Gepräge der alten Straßen schon der makellosen Glätte des
neuen Jahrhunderts Platz gemacht. Als Folge dessen hatte die Stadt eine
unwillkommene Vermehrung von Landstreichern und abgerissenen Hungerleidern
erlebt, die sich als Straßenkünstler betätigten. Eine besonders unangenehme
Sorte von ihnen war unter der Bezeichnung »Schmierer« bekannt – Almosen
heischende Leute, die kaum mehr waren als Bettler; ohne dieses Quentchen
künstlerische Begabung hätten sie zweifellos Zündhölzer verkauft oder mit dem
Hut in der ausgestreckten Hand Passanten belästigt.
Am Tage nach Barabbas’ Tod kämpfte sich Mister
Dedlock durch die Menschenmenge, die aus unerfindlichem Grund diesen Morgen
gewählt hatte, um sich auf den Straßen von Limehouse zusammenzurotten und ihm
im Weg zu sein. Sie stießen, schubsten und rempelten wie eine fernöstliche
Fußballmannschaft, die sich nach dem Spiel um die Theke einer Schenke drängte. Es
musste sich wohl um einen religiösen Feiertag handeln, ging es Dedlock durch
den Kopf, um irgendein heidnisches Fest, das diese lästigen, ärgerlichen
Unannehmlichkeiten zeitigte. Als er endlich den wohlbekannten Laden erblickte,
musste er verschwitzt und mit pfeifendem Atem innehalten, um wieder Luft zu
bekommen. Seine Triumphe auf dem Rugbyfeld lagen immerhin Jahre hinter ihm;
diese Welt gehörte jetzt schlankeren, jüngeren Männern, die in besserer
körperlicher Verfassung waren als er.
Ein Schmierer hockte ein paar Schritte von der Tür
des Metzgerladens entfernt auf dem Bürgersteig. Er war in geradezu groteskem
Maße ungepflegt und hatte sein Kunstwerk halbherzig mit Kreide vor sich
hingekritzelt. Dedlock schritt an ihm vorbei, entschlossen, dem Mann nicht den
leisesten Funken von Beachtung zu schenken. Doch als er einen Seitenblick auf
das Erzeugnis des Schmierers warf, stach ihm etwas ins Auge – ein Wort,
das ihn auf der Stelle erstarren ließ:
Dedlock.
Der genannte Herr rümpfte die Nase bei dem Geruch,
der von dem Schmierer aufstieg. »Kennen wir uns?«
»Gefahr!«, zischte der Bettler. »Gefahr!«
»Gefahr? Welche Gefahr?«
»Gefahr.«
»Sie sind betrunken«, stellte Dedlock von oben
herab fest.
»Erkennen Sie mich nicht, Sir?«
Dedlock schnaubte verächtlich und wollte sich
gerade wieder in Bewegung setzen, als irgendetwas an diesem Individuum noch
einmal seinen Blick auf sich zog. Er sah genauer hin. »Grischenko? Sind Sie
es?«
Der Schmierer nickte etwas verlegen.
»Was, zum Teufel, tun Sie hier?«
»Gefahr«, wiederholte er feierlich. »Gefahr.«
»Das sagten Sie schon.«
»Gefahr.«
Dedlock verdrehte die Augen. »Wischen Sie sich den
Dreck vom Gesicht und kommen Sie mit. Sie können mir das alles genausogut
drinnen erzählen.«
Der Mann rappelte sich hoch und folgte Dedlock,
der großspurig wie immer den Laden betrat.
Mister Skimpole wartete bereits missmutig und
nervös auf seinem Stuhl am großen runden Tisch. In Anbetracht der auch sonst
stets leichenblassen Hautfarbe des Albinos war es schwer zu beurteilen, aber
Dedlock fand, dass er heute ganz besonders ungesund aussah.
Beim Eintreten seines Kollegen scheuchte Skimpole
eine Schar als Chinesen verkleidete Beamte weg, die ihn umdrängt und ihm
übereifrig Berichte hingehalten hatten, die gelesen werden mussten, Briefe, die
unterzeichnet, und Pläne für Komplotte und Intrigen, die genehmigt werden
mussten.
»Wer ist denn das?«, fragte er und starrte den
Schmierer entgeistert an. Seine Stimme war in lichte Höhen geklettert wie die
eines Mannes, dessen Schoßhund soeben etwas von der Fauna des Waldes in den
Salon geschleppt hatte, wo es nun zwar tot, aber immer noch blutend dalag.
»Das ist Mister Grischenko«, erklärte Dedlock, und
der Zerlumpte nickte zerstreut dazu. Er wirkte kribbelig und hinterhältig und
blickte sich immerzu um, als hätte er schreckliche Angst vor irgendeiner
heimlichen Bedrohung, die knapp außerhalb seines Gesichtsfelds lauerte.
»Einer von den deinen?«, fragte Skimpole mit
vernichtendem Blick.
Aber der Mann mit der Narbe dachte nicht daran,
sich zu rechtfertigen. »Einer von meinen.«
»Und wer?«
Dedlock senkte die Stimme zu einem
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