Das Albtraumreich des Edward Moon
länger hier als erwünscht, nicht
wahr?«
»Keineswegs.« Ihr Lächeln wirkte angestrengt, war
aber noch vorhanden. Seltsam, dass es eine Zeit gegeben hatte, da ihr dieser
Mann als bedrohlich erschienen war …
Mit einem aufreizend tiefem Seufzer ließ sich der
Albino in seinem Sessel zurücksinken. »Wenn ich es recht überlege«, sagte er,
»wäre mir eine weitere Tasse gar nicht unlieb. Falls möglich …«
»Natürlich«, sagte Mrs Grossmith gottergeben.
Während sich die Haushälterin am Teekessel zu
schaffen machte, murmelte Skimpole: »Ich wäre heute fast gestorben.«
»Wie bitte?«, fragte sie merklich unbeteiligt.
»Was sagten Sie gerade?«
Bevor Skimpole antworten konnte, spazierte Arthur
Barge ins Zimmer. »Immer noch da?«
»Wie Sie sehen.«
»Wissen Sie, es ist nur so, dass ich vorhatte, mit
Mrs Grossmith auszugehen. Eine kleine Einladung. Ich schätze, die hat sie sich
verdient. Sie sind ein Mann von Welt, so wie ich, Mister Skimpole, ich bin
sicher, Sie verstehen, was ich meine.«
»Nicht ganz, nein.«
»Weiß der Himmel, ob Mister Moon heute Nacht noch
heimkommt. An Ihrer Stelle würde ich nach Hause gehen.«
Widerwillig erhob sich Skimpole vom Sessel. »Also
gut, dann gehe ich.«
»Ich werde ihm sagen, dass Sie hier waren, Sir,
darauf können Sie sich verlassen«, versicherte ihm Mrs Grossmith.
»Ich komme gleich am Morgen wieder. Es ist
unbedingt erforderlich, dass ich mit ihm spreche.«
Barge geleitete den Gast zur Tür. »Dann sehen wir
uns also morgen, Sir, es wird mich sehr freuen.«
Kaum hatte der Albino den Raum verlassen und die
Tür hinter sich zugemacht, war die Luft schon erfüllt vom brünstigen Gurren der
Wollust und den schrillen, fast wimmernden Lauten des Sinnenrausches – den
für Skimpoles Ohren so unangenehmen Geräuschen später Leidenschaft. Er
verdrehte die Augen und machte sich auf den Heimweg.
Und daheim war er, wie es nun einmal so geht, in
Wimbledon – eine Stunde und Welten entfernt von der goldgerahmten
Behaglichkeit von Moons Hotel.
Im Unterschied zu Mister Dedlock hatte sich
Skimpole nie eingebildet, ein faszinierender oder mächtiger Mann zu sein.
Dedlock legte Wert auf vornehmes Auftreten und darauf, seine Arbeit als etwas
Einzigartiges und atemberaubend Spannendes darzustellen; Skimpole hingegen
reichte es – ja, es machte ihn stolz –, als das angesehen zu werden,
was er war: ein Mann im Dienste der Allgemeinheit, ein Beamter – und ein
verdammt guter dazu. Sein Kollege stolzierte so großspurig durch die Welt, als
wäre er ihr Mittelpunkt, doch Skimpole war immer schon mit seinem Leben stiller
Pflichterfüllung und Routine zufrieden gewesen. Dass diese Pflichterfüllung und
Routine des Öfteren aus Brandstiftung, Erpressung, Bespitzelung und Mord unter
staatlicher Schirmherrschaft bestand, schien ihm nie aufzufallen.
Der öffentliche Dienst bot ihm eine ansehnliche,
wenngleich keineswegs großzügige Besoldung, und so hatte sich Skimpole in der
Lage befunden, ein bescheidenes Reihenhaus anzuschaffen, nicht weiter als einen
Häuserblock vom Park entfernt. Und eine Stunde, nachdem er Mrs Grossmith in den
Armen ihres Verehrers zurückgelassen hatte, sperrte Skimpole die Eingangstür
auf, wobei er unter dem Getöse, das aus dem Nebenhaus drang, den Kopf einzog.
Die Mauern waren dünn, und Skimpoles Nachbarn waren grölenden Zusammenkünften
und volkstümlicher Musik weitaus inniger zugetan als er.
In seinem eigenen Haus übertönten andere,
angenehmere Willkommensgeräusche den Lärm von nebenan: ein beharrliches
Tap-tap, ein metallisches Klingeln und dazu das Pfeifen und Keuchen
unregelmäßiger, schwerer Atemzüge.
Skimpole hängte den Hut an den Haken; zum ersten
Mal an diesem Tag hatte er tatsächlich ein Lächeln auf den Lippen. Ein
strohblonder Junge von acht oder neun Jahren, kränklich und blass aussehend,
schleppte sich auf ihn zu. Sein Vorankommen wurde stark behindert von den
metallenen Klammern und Schienen, die seine Beine wie eine Panzerung
umschlossen, und von den beiden schweren hölzernen Krücken, auf die er sich
stützte.
»Papi!«, rief er kläglich aus; von der Anstrengung
war seine Stimme zittrig und heiser. Er blieb stehen, hustete mitleiderregend
kraftlos und schwankte, aus dem Gleichgewicht gebracht, unsicher auf den zerschundenen
Beinen. Der Albino beugte sich hinab, um den Jungen festzuhalten, und küsste
ihn zärtlich auf die Stirn.
»Hallo«, sagte er leise. »Tut mir leid, dass es so
spät wurde.« Er
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