Das alte Haus am Meer
gut, süße Maid, und lass schlau sein, wer will‹. Noch eines meiner stets passenden Zitate. Wir verstehen uns, nicht?«
Lisle fror plötzlich. Sie musste an die kleine Frau aus dem Zug denken, die Tennyson zitiert hatte; Miss Maud Silver, Privatdetektivin, mit einer Adresse in London.
Rafe sagte: »Ich würde mich an deiner Stelle nicht über Aimée Mallam aufregen. Da gibt es übrigens noch ein passendes Zitat: ›Selbst die Hölle kennt nichts Schlimmeres als den Zorn einer verschmähten Frau.‹ Sie hat sich mal Dale an den Hals geworfen, und der hat sie nicht einmal bemerkt. Daran hat sich natürlich ihr teuflischer Zorn entzündet.«
Er legte den Arm um sie und zog sie hoch. »Komm, es wird spät. Dale denkt sonst noch, wir wären durchgebrannt.«
Sie kamen in die große quadratische Eingangshalle. Es war einer der Orte, die Lisle hasste. Irgendein Jerningham hatte Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nach der Rückkehr von seiner großen Europareise die schöne elisabethanische Halle mit ihrer Eichentreppe und der warmen Holztäfelung in eine kalte Leichenhalle umgebaut, mit Marmor gepflastert und von eisigen Statuen bewacht. Eine protzige Treppe aus schwarzem und weißem Marmor führte zu einem Treppenabsatz, wo eine schauerliche Marmorgruppe darstellte, wie Actaeon von seinen Hunden zerrissen wird. Rechts und links davon führte die Treppe weiter auf eine Galerie, die die Halle auf drei Seiten säumte. Noch mehr Marmor, noch mehr Statuen – eine kopflose Medusa, eine Büste von Nero, eine Kopie des Laokoon, der sterbende Gladiator. Lisle fand Mr Augustus Jerninghams Vorlieben deprimierend makaber.
Als sie langsam die Treppe hinaufging, kam ihr Alicia entgegen. Sie hatte sich umgezogen und trug ein cremeweißes Chiffonkleid mit weitem Rock und Rüschen bis fast zur Taille. Wäre nicht die schmale schwarze Samtschärpe gewesen, hätte man sie für eine achtzehnjährige Debütantin halten können. Die dunklen Locken waren im Nacken zu einem nüchternen Knoten gebunden. Sie lächelte Lisle zu und ging ohne etwas zu sagen hinunter in die Halle.
Lisle ging weiter, vorbei an den Hunden mit ihren geifernden Lefzen und am Schmerz verzerrten Gesicht des Actaeon, die rechte Galerie entlang zu ihrem Schlafzimmer. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, sich umzuziehen, ihr Haar zu bürsten, bis es glänzte und ihr schönstes Kleid anzuziehen. Etwas in Alicias Lächeln hatte diesen Wunsch in ihr geweckt. Sie warf die bunte Jacke achtlos über einen Stuhl und gefiel sich sofort besser. Das helle Grün ihres Leinenkleides stand ihr, aber die Grün-, Rot- und Gelbtöne der Jacke waren zu kräftig für ihren Teint. Sie ließen sie farblos erscheinen und blass statt hellhäutig. Sie dachte: »Es war dumm, sie zu kaufen, ich werde sie verschenken«, und während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, hörte sie Dale ihren Namen rufen.
Das bedeutete, er war nicht mehr verärgert. Sie vergaß alles andere und lief zu ihm. Aber er war nicht in seinem Zimmer, das an ihres angrenzte. Es mündete auf die Galerie, also rannte sie hinaus und lehnte sich über die Marmorbrüstung, um in die Halle hinunterzublicken. Dale konnte sie nicht sehen, aber Rafe und Alicia standen unten. Alicias Stimme drang zu ihr nach oben, hoch und hell, jedes Wort deutlich zu verstehen.
»Ein Jammer, dass Dale ihr nicht beibringt, wie man sich kleidet. Was für eine schreckliche Jacke!«
Erschrocken und verletzt wich sie zurück und sah Dale die Galerie entlangkommen. Er musste auf der Treppe gewesen sein, hinter einer der Marmorgruppen für sie nicht sichtbar.
Mit leicht gerunzelter Stirn kam er auf sie zu.
»Wo warst du?«
»Unten bei der Mauer am Meer. Rafe hat mir meine Jacke gebracht.«
Und dann wünschte sie, sie hätte die Jacke nicht erwähnt. Sie hasste sie nun und würde sie nicht eine Stunde länger als nötig behalten. Irgendjemand würde sich finden, dem man sie schenken konnte und zwar schnell. Dann konnte sie leichthin in Alicias Beisein sagen:
»Ach, die Jacke? Ich habe sie verschenkt. Sie war schrecklich, ich weiß selbst nicht, warum ich sie gekauft habe.« Ja, das wäre der richtige Ton. So redeten Alicia und Alicias Freunde.
Dale runzelte noch immer die Stirn. Er sagte:
»Beeil dich mit dem Umziehen. Alicia ist schon runtergegangen.«
Er war immer noch wütend. Das Herz wurde ihr schwer. Sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür.
8
Seit kurzem hatte Lisle Jerningham sich angewöhnt, die Tage auf eine Weise zu bewerten, die ihr noch
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