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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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wer er wirklich war. Und das bedeutete eine schmachvolle Rückkehr nach Belisaere, wo Ellimere und Jall Oren über ihn zu Gericht sitzen würden. Die Folgen wären öffentliche Schmach und Schande. Die einzige Alternative war die unehrenhafte Vertuschung seiner Untat.
    Beides wäre unerträglich. Über die Enttäuschung auf den Gesichtern seiner Eltern käme er niemals hinweg. Und zweifellos würde auch seine Unfähigkeit offenkundig, Abhorsen-Nachfolger zu sein. Da war es schon besser, wenn er einfach verschwand. Er würde sich tiefer im Wald verstecken, bis er sich völlig erholt hatte, und dann mit einer neu gezauberten Gesichtstarnung nach Kante weiterreiten. Er war sicher, dass Nick immer noch Hilfe brauchte, auch wenn ihm klar war, dass nicht einmal Nick sich in größere Schwierigkeiten bringen konnte als die, in denen er selbst augenblicklich steckte.
    Doch die Entscheidung zu treffen war einfacher, als sie in die Tat umzusetzen. Sprosse wich schnaubend vor Sam zurück, als er nach den Zügeln greifen wollte. Sie scheute vor dem Blutgeruch und Sams leisen Aufschreien, wenn er sein verwundetes Bein versehentlich belastete.
    Schließlich trieb er die Stute in eine natürliche Sackgasse, wo die Bäume ein neuerliches Zurückweichen verhinderten. Aufzusitzen erwies sich als weitere Herausforderung. Der Schmerz, als er sein Bein über den Pferderücken schwang, ließ ihn beinahe bewusstlos werden.
    Und dann ergab sich wieder ein Problem. Es wurde rasch dunkel, und Sam wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Die Zivilisation und alles, was sie zu bieten hatte, lag östlich, nördlich und südlich, doch er wagte nicht, sich dorthin zu begeben, ehe er in der Lage war, sein Aussehen mit einem Zauber zu verändern. Nach Westen gab es viele Waldwege, die für Sam jedoch in ein Labyrinth ohne Ausgang führten. Irgendwo im Wald mochte es sogar Siedlungen oder einsame Häuser geben, aber es war zu gefährlich, sich auch nur in die Nähe zu wagen. Und er hatte nur noch eine Feldflasche mit abgestandenem Wasser, eine Kante altes Brot und ein Stückchen gepökeltes Rindfleisch – seine Notration, falls er zwischendurch eine kleine Stärkung brauchte…
    Es fing zu regnen an, da der Wind Wolken vom Meer herangetrieben hatte; es war nur ein leichter Frühjahrsschauer, aber er genügte, Sams Lage weiter zu verschlimmern. Er fluchte, als er sich mit seinen Satteltaschen abplagte, denn sein Umhang wollte sich nicht herausziehen lassen. Wenn er sich in seinem derzeitigen Zustand auch noch erkältete, würde er wahrscheinlich in einem Grab im Wald enden, dachte er verbittert – kein Grab, das von Menschenhänden geschaufelt worden war, sondern ein kleiner Hügel aus Zweigen und Moos, die der Wind herangetrieben hatte und die von Gras bewachsen waren, das auf seinen traurigen Überresten wucherte.
    Er dachte gerade über diese schreckliche Aussicht nach, als seine am Umhang zerrenden Finger Leder und kaltes Metall statt Wolle spürten. Sofort riss er die Hand weg, doch seine Fingerspitzen waren bereits blau vor Kälte. Dann durchzuckte ihn die Erkenntnis, was er soeben berührt hatte, und er krümmte sich im Sattel und schluchzte vor Angst und Verzweiflung.
    Das
Buch der Toten.
Er hatte es in seinem Werkraum zurückgelassen, doch es hatte sich widersetzt, genau wie die Glocken. Er würde sie niemals loswerden. Sie würden ihm folgen, sogar bis in den Tod.
    Sam wollte schon aufgeben, als eine Stimme aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen erklang.
    »Ein kleiner Prinz, der sich im Wald verirrt hat und weint.
    Ich dachte, du hättest mehr Mumm in den Knochen, Prinz Sameth. Aber ich täusche mich ja oft.«
    Die Stimme hatte eine seltsame Wirkung. Sameth fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Vor Schmerz keuchend, griff er nach seinem Schwert. Die erschrockene Sprosse sprang plötzlich vorwärts und kanterte zwischen den Bäumen hindurch, ohne Rücksicht auf ihren Reiter, der sich vor tief hängenden Ästen ducken musste.
    Pferd und Reiter preschten dahin, begleitet von Schreien und Gewieher. So brachten sie mindestens fünfzig Meter hinter sich, ehe Sameth Sprosse unter Kontrolle bekam und sie in die Richtung drehte, aus der die Stimme gekommen war.
    Es gelang ihm nun auch, sein Schwert zu ziehen. Inzwischen herrschte Zwielicht, die Baumstämme waren zu aschgrauen Streifen geworden. An den schwarzen Ästen hingen Blätter wie schwere Klumpen aus Finsternis. Wer oder was immer gesprochen hatte, konnte sich mühelos an Sam

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