Das alte Königreich 02 - Lirael
Ryelle reichte Liraels Tasche, den Bogen und das Schwert hinüber, und Sanar zeigte ihr, wie sie die Tasche in der mit Öltuch ausgekleideten Kiste in der vorderen Piek verstauen konnte. Schwert und Bogen wurden in besonderen, vor Wasser gesicherten Kisten zu beiden Seiten des Mastes untergebracht, wo sie schneller greifbar waren.
Dann zeigte Sanar der noch immer verunsicherten Lirael, wie sie das Dreieckssegel der
Finderin
hinauf- und hinunterlassen musste und wie der Baum sich bewegte.
Finderin
würde das Segel jeweils selbst brassen und Liraels Hand an der Pinne lenken. Im Notfall fand das Schiff auch allein seinen Weg durch Wind und Wogen, doch
Finderin
zog es vor, von Menschenhand gelenkt zu werden.
»Wir hoffen, dass sich unterwegs keine Gefahr ergibt«, sagte Ryelle, als die Zwillinge Lirael alles auf dem Schiff gezeigt hatten. »Normalerweise ist der Wasserweg bis Qyrre ungefährlich, diesmal aber können wir nicht sicher sein. Wir wissen nicht, was sich in der Grube befindet, die du Gesehen hast, oder über welche Macht dieses Etwas verfügt. Vorsichtshalber solltest du nachts im Fluss ankern, statt an Land zu gehen – oder an einer Insel anlegen. Es gibt ihrer viele stromabwärts. Ab Qyrre solltest du dich an die Königlichen Konstabler wenden, falls du Hilfe brauchst. Hier ist zu diesem Zweck ein Schreiben von uns – als Stimme der Wache. Wenn wir Glück haben, werden auch Gardisten anwesend sein, und vielleicht ist die Abhorsen inzwischen aus Ancelstierre zurück. Doch was immer du auch tust – du musst darauf achten, dass du mit einer großen und bewaffneten Gruppe von Qyrre nach Kante reist. Weiter können wir dir keine Ratschläge erteilen. Die Zukunft ist verschwommen.«
»Sei also vorsichtig«, fuhr Sanar fort und lächelte, doch die Fältchen um ihre Augenwinkel verrieten ihre Besorgnis.
»Ich pass schon auf«, versprach Lirael. Jetzt, da sie sich bereits an Bord befand und gleich ablegen würde, war sie noch aufgeregter als zuvor. Zum ersten Mal reiste sie in eine Welt, die nicht von Stein oder Eis umgeben war; sie würde sich in Gefahr begeben, denn sie wusste nichts über ihren Feind und war deshalb nicht auf ihn vorbereitet. Selbst ihre Mission war nicht deutlich umrissen. Sie sollte irgendwann in diesem Sommer irgendwo auf einem See einen jungen Mann suchen. Was war, wenn sie diesen Nicholas tatsächlich fand und all die drohenden Gefahren überlebte? Würden die Clayr ihr dann gestatten, in den Gletscher zurückzukehren? Was, wenn nicht?
Zugleich aber verspürte Lirael freudige Aufregung, weil sie zum ersten Mal einem Leben entfloh, das sie einengte, auch wenn sie dies nicht einmal sich selbst gegenüber zugab. Sie würde mit der
Finderin
durch den Ratterlin gleiten – in Länder, von denen sie nur aus Büchern wusste. Sie hatte die Hundestatuette und die Hoffnung, dass ihre Hundefreundin zurückkehrte. Und sie reiste in offiziellem Auftrag, tat etwas Wichtiges. Fast wie eine richtige Tochter der Clayr.
»Das hier wirst du auch brauchen.« Ryelle reichte ihr eine Lederbörse, die prall mit Münzen gefüllt war. »Der Schatzmeister möchte, dass du Belege mitbringst, wofür du das Geld ausgegeben hast, aber ich glaube, du wirst genug andere Dinge zu tun haben, als dich auch noch darum zu kümmern.«
»Jetzt möchten wir noch gern sehen, wie du das Segel setzt, dann verabschieden wir uns«, sagte Sanar. Ihre blauen Augen blickten fest in die Liraels und schienen all die Ängste zu sehen, die Lirael quälten, von denen sie jedoch nicht gesprochen hatte. »Die Sicht verrät es mir zwar nicht, aber ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Und du darfst nie vergessen, dass du mit oder ohne Sicht eine Tochter der Clayr bist. Viel Glück, Lirael!«
Lirael brachte kein Wort hervor. Sie nickte bloß und zog am Baum, um das Segel zu setzen. Es hing schlaff herab, denn der Höhlenhafen war windgeschützt.
Ryelle und Sanar bedachten sie mit einem letzten Kopfnicken; dann lösten sie die Vertäuung des Schiffes. Die Strömung des Ratterlins erfasste die
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und die Pinne in Liraels Hand bewegte sich, um ihr anzuzeigen, dass sie das Schiff hinaus in die sonnenbeschienene Welt des Flusses lenken musste. Noch einmal blickte Lirael zurück, als sie aus dem Schatten der Höhle in die Sonne glitt, während noch hoch über ihr Eiszapfen hingen. Sanar und Ryelle blieben am Kai stehen. Sie winkten, als der Wind das Segel erfasste und Liraels Haar zauste.
Jetzt bin ich unterwegs, dachte sie. Jetzt
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