Das alte Königreich 02 - Lirael
durchdrang. Die Tür konnte doch nicht von außen verschlossen sein, oder?
Hinter sich hörte er, wie nun doch die Angeln brachen und die andere Tür nach innen fiel. Totenhände stürmten hindurch. Sie krächzten etwas, das bei Lebenden zweifellos Triumphgebrüll gewesen wäre.
Sam drehte den Ring andersherum, und plötzlich schwang die Tür auf. Sie riss ihn mit sich, und er fiel mehrere Stufen hinunter, die zu einem Anlegesteg führten. Der Aufprall sandte stechenden Schmerz durch sein verwundetes Bein, doch es war ihm egal. Er hatte endlich den Ratterlin erreicht!
Dank des bleichen Sternenlichts konnte er nun wieder ein wenig mehr erkennen. Da war der Fluss, der kaum eine Armlänge entfernt dahinrauschte. Und auf dem Anlegesteg stand eine große Zinkbadewanne, wie sie benutzt wurde, um mehrere Kinder gleichzeitig zu baden. Sie war groß genug, dass ein Erwachsener bequem darin liegen konnte. Kaum hatte Sam die Wanne erblickt, schob er sie in den Fluss und hielt sie fest, damit sie nicht von der Strömung mitgerissen wurde; dann warf er mit der freien Hand sein Schwert und die Satteltaschen hinein.
»Ich nehme meine Bemerkung zurück«, sagte Mogget und sprang ebenfalls in die Wanne. »Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst.«
Sam wollte etwas entgegnen, aber sein Mund schien sich nicht bewegen zu wollen. Er stieg in die Wanne und hielt sich an der letzten Stufe des Anlegestegs fest. Die Wanne sank erschreckend tief ein, doch als Sam schließlich ganz darin war, ragte sie zum Glück noch mehrere Zoll aus dem Wasser.
Er stieß sich in dem Moment ab, als die Toten durch die Tür quollen. Der erste prallte angesichts der unmittelbaren Nähe fließenden Wassers zurück, doch die anderen drängten nach, und eine der Totenhände fiel geradewegs auf Sams behelfsmäßiges Boot zu.
Die Kreatur schrie, als sie auf die Stufen prallte; für einen Augenblick hörte sie sich beinahe lebendig an. Sie versuchte sich an irgendetwas festzuhalten, konnte jedoch nur noch die Richtung ihres Sturzes ändern. Eine Sekunde später fiel die Totenhand in den Ratterlin, und ihr Schrei ging in einer Fontäne aus silbernen Funken und goldenem Feuer unter.
Sie hatte das Boot nur um ein paar Fuß verfehlt. Die Welle, die sie bei ihrem Aufprall verursachte, überschwemmte die Badewanne fast. Die Toten, die oben an der Tür verharrten, beobachteten ebenso wie Sam die letzten Augenblicke des im Fluss versinkenden Geschöpfes.
Ungeheure Erleichterung stieg in Sam auf, als sie zur Flussmitte trieben.
»Erstaunlich«, sagte Mogget, »wir sind tatsächlich entkommen…«
Dritter Teil
Das Alte Königreich
Achtzehntes Jahr der Restauration von König Touchstone I.
34
FINDERIN
Das Boot wartete in einem unterirdischen Hafen, von dem Lirael zwar wusste, aber den sie nur ein einziges Mal besucht hatte, und das war Jahre her. Der Hafen war am Ende einer gewaltigen Höhle angelegt, die dort, wo sie sich zur Außenwelt öffnete, von der Sonne beleuchtet wurde. Gischt sprühend, toste der Ratterlin vorüber. Eiszapfen an der Höhlenöffnung, gelegentlicher Schneefall und gefrierendes Eis wiesen auf den Gletscher hin, der sich über der Höhle erstreckte.
Mehrere Segler waren hier vertäut. Liraels Schiff war ein schlanker Einmaster mit kunstvoll geschnitztem Ruderblatt und einer bemerkenswerten Galionsfigur – eine Frau mit hellwachen Augen, die Lirael anblickte, als wüsste sie genau, wer ihr nächster Passagier sein würde. Einen Moment lang glaubte Lirael sogar, die Frau habe ihr zugezwinkert.
Sanar deutete auf die bunte Galionsfigur und sagte: »Das ist die
Finderin.
Sie wird dich sicher nach Qyrre hinunterbringen. Es ist eine Fahrt, die sie schon tausend Mal und öfter gemacht hat – hin und zurück, mit und gegen den Strom. Sie kennt den Fluss gut.«
»Ich weiß aber nicht, wie man segelt«, murmelte Lirael. Sie bemerkte die Charterzeichen, die sich langsam über Rumpf, Mast und Takelung des Schiffes bewegten. Erschöpft und verängstigt, wie sie war, erweckte der Anblick der Außenwelt vor der Höhlenöffnung in ihr nur das Bedürfnis, sich irgendwo zu verstecken und zu schlafen. »Was muss ich denn tun?«
»Sehr wenig«, beruhigte Sanar sie.
»Finderin
wird das meiste selbst erledigen. Du wirst dich nur um das Segel kümmern und ein wenig steuern müssen. Ich werde dir zeigen, wie das geht.«
»Danke«, flüsterte Lirael. Sie folgte Sanar aufs Schiff und hielt sich am Schandeck fest, als die
Finderin
schaukelte.
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