Das alte Königreich 02 - Lirael
finden.«
»Das kann ich nur hoffen«, murmelte Lirael. Jetzt, da sie mehr über Nicholas, die Blitzfalle und den Angriff der Toten auf Sam wusste, war ihr klar, dass sie wahrscheinlich alle Hilfe brauchen würde, die sie bekommen konnte. Und nicht nur sie – das galt für das gesamte Königreich.
»Es ist schließlich seine Aufgabe«, fügte sie hinzu, »wenn er schon der Abhorsen-Nachfolger ist. Ich sollte eigentlich wieder in der Sicherheit des Gletschers sein, während
er
sich diesen Hedge vornimmt – und was immer noch da draußen ist!«
»Wenn die Abhorsen und der König Recht haben, was Hedges Pläne betrifft, ist es nirgendwo sicher, auch nicht im Gletscher«, behauptete die Hündin. »Und alle, die das Blut in sich haben, müssen die Charter verteidigen.«
Lirael seufzte und legte die Arme um den Hals der Hündin. »Warum muss alles so schwierig sein?«
»So ist es nun mal«, brummte die Hündin. »Doch Schlaf wird es leichter machen. Ein neuer Tag bringt neue Ausblicke und neue Gerüche!«
»Und wie soll mir das helfen?«, murrte Lirael. Doch sie streckte sich auf dem Boden aus und zog ihr Bündel als Kopfkissen unter sich. Für eine Decke war es zu warm, trotz der leichten Brise, die vom Fluss her wehte. Es war richtiggehend heiß und feucht; hinzu kamen die lästigen Mücken und Sandfliegen. Soweit es den Kalender des Königreichs betraf, hatte der Sommer noch gar nicht angefangen, aber das Wetter scherte sich nicht darum. Und es sah nicht so aus, als würde Regen Abkühlung bringen.
Lirael erschlug gerade ein paar Mücken, als Sam herbeikam, in seiner Satteltasche kramte und etwas Helles, Glitzerndes herausholte. Lirael setzte sich auf, als sie sah, dass es ein mit Edelsteinen verzierter mechanischer Frosch war. Ein Frosch mit Flügeln.
»Tut mir Leid, dass ich mich vorhin schlecht benommen habe«, entschuldigte sich Sam und setzte den fliegenden Frosch ab. »Das wird gegen die Mücken helfen.«
Nach dem Wie brauchte Lirael nicht mehr zu fragen, als der Frosch einen Purzelbaum rückwärts machte, wobei seine Zunge zwei besonders große, blutgefüllte Mücken schnappte.
»Sehr geschickt«, lobte die Hündin und hob kurz den Kopf aus dem bequemen Loch, das sie sich zum Schlafen gescharrt hatte.
»Ich habe ihn für meine Mutter angefertigt.« In Sams Stimme lag Selbstmitleid. »Basteln ist das Einzige, was ich wirklich gut kann.«
Lirael nickte und beobachtete, wie der Frosch sich weitere Insekten schnappte. Er bewegte sich geschmeidig, und seine Bronzeflügel schlugen fast so schnell wie die eines Kolibris, wobei sie ein Geräusch machten, als rüttle der Wind an einer Jalousie.
»Mogget musste sie töten«, sagte Sam plötzlich und blickte wieder ins Feuer. »Meine Stute… Sprosse. Ich hatte sie überanstrengt. Sie brach zusammen. Ich brachte es nicht fertig, ihr den Gnadenstoß zu geben. Mogget musste ihr die Kehle durchreißen, um sicherzugehen, dass die Toten sie nicht umbrachten und durch ihr Blut stärker wurden.«
»Das tut mir Leid«, sagte Lirael bedrückt.
Sam schwieg. Er starrte nachdenklich in die Glut und sah Formen und Muster in Orange, Schwarz und Rot. Er konnte das leise Rauschen des Ratterlins hören und den schnaufenden Atem der schlafenden Hündin. Und er glaubte zu spüren, dass Lirael, die nur drei oder vier Schritte entfernt saß, darauf wartete, dass er etwas sagte.
»Ich hätte es selbst tun müssen«, flüsterte er. »Aber ich hatte Angst. Angst vor dem Tod. Wie immer schon.«
Lirael schwieg betroffen. Noch nie hatte jemand ihr etwas Persönliches erzählt, schon gar nicht so etwas! Und Sam war der Sohn der Abhorsen – der Abhorsen-Nachfolger! Wie konnte er sich da vor dem Tod fürchten? Das war beinahe so, als hätte eine Clayr Angst vor der Sicht. Es war unvorstellbar!
»Ihr seid müde und verwundet«, sagte sie schließlich. »Ihr solltet schlafen. Morgen fühlt Ihr Euch schon besser.«
Sam drehte sich zu ihr um, hielt jedoch den Kopf gesenkt, um ihr nicht in die Augen blicken zu müssen.
»Ihr seid in den Tod gegangen«, murmelte er. »Hattet Ihr Angst?«
»Ja«, gestand Lirael. »Aber ich habe die Anweisungen im Buch befolgt.«
»Im Buch?« Sam fröstelte trotz der Wärme. »Im
Buch der Toten?«
»Nein«, antwortete Lirael. Ein
Buch der Toten
kannte sie gar nicht. »Im
Buch des Erinnerns und Vergessens.
Es hat mit dem Tod nur insofern zu tun, als ein Erinnerer sich dorthin begeben muss, um in die Vergangenheit blicken zu können.«
»Davon habe ich
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