Das alte Königreich 02 - Lirael
Hündchen«, sagte sie frohgemut und strich mit einem Finger über die steinerne Hundeschnauze. Ihre eigene Stimme überraschte sie – nicht wegen der Heiserkeit, die noch von ihrer verletzten Kehle herrührte, sondern weil sie seltsam und ungewohnt klang. Da erst wurde ihr bewusst, dass sie seit zwei Tagen kein Wort mehr gesagt hatte. Die anderen Bibliothekarinnen hatten sich längst mit Liraels Schweigen abgefunden und sie in letzter Zeit lediglich mit einem Nicken, einem Kopfschütteln oder einem knappen Wort bedacht, wenn ein Auftrag sofort erledigt werden musste.
Die Konstruktion des Hundesendlings befand sich unter ihrem Schreibtisch, verborgen durch ein darüber gelegtes Tuch. Lirael langte darunter, entfernte das Tuch und zog vorsichtig das Gerüst hervor, das sie zu Beginn des Zaubers gebastelt hatte. Sie strich mit den Händen darüber und spürte die Wärme der Charterzeichen, die lässig in den verschlungenen Silberdrähten in der Form eines Hundes auf und ab schwammen. Es war ein kleiner Hund, ungefähr einen Fuß hoch. Der Silberdraht, den Lirael klammheimlich da und dort abgezweigt hatte, hatte für ein größeres Gerüst nicht gereicht, aber das störte sie nicht, im Gegenteil: Ein kleiner Hundesendling würde angenehmer sein als ein großer. Sie wollte einen Freund, in dessen Gegenwart sie sich wohl fühlte, und keinen Hund, der groß genug für einen Wachesendling war.
Von dem silbernen Drahtgerüst abgesehen, besaß die Hundegestalt zwei Augen aus Gagatknöpfen und eine Nase aus schwarzem Filz. Beides hatte Lirael bereits mit Charterzeichen durchdrungen. Ihr künftiger vierbeiniger Freund besaß außerdem einen Schwanz aus geflochtenem Hundehaar, das Lirael den Hunden von Besuchern im Unteren Refektorium heimlich abgeschnitten hatte; es war bereits mit Charterzeichen auf seine künftige Funktion vorbereitet.
Der abschließende Zauber verlangte, dass Lirael in die Charter langte, mehrere tausend Zeichen herauspflückte und sie in die Silberdrahtfigur strömen ließ. Es waren Zeichen, die einem Hund die endgültige Gestalt verliehen und ihm den Anschein von Leben verleihen würden, wenn es auch kein echtes Leben war.
War der Zauber erst gewirkt, würden das Silberdrahtgerüst, die Gagatknöpfe und das geflochtene Hundehaar verschwinden und von einem welpengroßen Hund aus einer durch Zauber geschaffenen Substanz abgelöst. Diese Schöpfung würde ganz und gar wie ein Hund aussehen, es sei denn, man näherte sich ihr so weit, dass man die Charterzeichen sehen konnte, aus denen sie zusammengesetzt war. Doch Lirael würde den Hund nicht streicheln können. Sendlinge zu berühren war meist so, als würde man Wasser berühren; die Haut gab nach und formte sich neu. Außerdem spürte man nur das Summen und die Wärme der Charterzeichen, wenn man einen Sendling anfasste.
Lirael ließ sich mit überkreuzten Beinen neben dem Silberdrahtmodell nieder, um die in ihrem Bewusstsein gespeicherten Charterzauber darauf zu übertragen. Sie wollte gerade in die Charter greifen und anfangen, als ihr Blick auf das steinerne Hündchen auf dem Schreibtisch fiel. Es sah irgendwie einsam aus da oben, als fühlte es sich ausgesetzt. Kurz entschlossen stand Lirael auf und nahm es auf den Schoß, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte. Die kleine Skulptur neigte sich ein wenig, doch ohne zu kippen.
Lirael nahm ein paar tiefe Atemzüge und begann aufs Neue. Sie hatte sich die erforderlichen Zeichen in der Kurzschrift notiert, die alle Magier für Charterzeichen benutzten, brauchte die Aufzeichnungen aber gar nicht, die ordentlich neben ihr lagen: Die ersten Zeichen kamen mühelos, und die darauf folgenden schienen sich beinahe selbst auszuwählen. Zeichen um Zeichen sprang aus dem Fluss der Charter in Liraels Bewusstsein in die Hundeform aus Silberdraht, in einem Bogen aus goldenen Blitzen.
Je mehr Zeichen durch sie hindurcheilten, desto tiefer versank Lirael in Trance, in der sie kaum noch etwas anderes wahrnahm als die Charter und die Zeichen, die sie füllten. Der goldene Blitzbogen wurde zu einer festen Lichtbrücke, die von ihren ausgestreckten Händen zu dem Silberdrahtgerüst führte, und von Sekunde zu Sekunde leuchtete er greller. Lirael schloss die Augen vor diesem schier unerträglichen Schein und spürte, wie sie den schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Traum überschritt. In ihrem Geist rasten Bildnisse zwischen den Zeichen dahin. Bilder von Hunden – vielen Hunden aller Arten, Farben und Größen.
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