Das alte Königreich 03 - Abhorsen
aber sie hatten die Kugeln über die Mauer gebracht. Die Blitzfarm war bereit.
Jetzt mussten sie die Hemisphären nur noch vereinigen… dann würde alles bewiesen sein und seine Richtigkeit haben.
Donner krachte und jemand schrie. Ein Mann fiel vom Schiff. Seine Haut war schwarz, sein Haar brannte. Er lag stöhnend und sich windend auf dem Dock, bis einer der anderen Männer zu ihm ging und ihm die Kehle durchschnitt. Nick beobachtete es ohne allzu großes Erschrecken. Das war der Preis, den der Umgang mit den Hemisphären forderte, und nur sie waren von Bedeutung.
Langsam erhob sich Nick, erst auf alle viere, dann stellte er sich auf. Es war Schwerstarbeit, und er musste sich eine Weile am zerbrochenen Regenabflussrohr der Hütte festhalten, bis das Schwindelgefühl verging. Doch langsam wurde er sicherer auf den Beinen. Noch ein Mann starb, während er dastand, doch er bekam es gar nicht mit. Er hatte nur Augen für die glänzenden Silberhalbkugeln. Bald würde die erste in das verfallene Gebäude der Sägemühle geschafft sein. Dort würde sie auf ein besonderes Gestell auf einem Eisenbahnwagon geladen. Es war einer von zwei Wagen, die auf dem kurzen Gleisstück warteten.
So zumindest hatte Nicholas es angeordnet. Ihm wurde bewusst, dass er die Blitzfarm nie selbst gesehen hatte. Er hatte lediglich die Pläne gezeichnet und für den Bau bezahlt, bevor er ins Alte Königreich aufbrach. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Er war noch immer geschwächt von der Krankheit, die ihn jenseits der Mauer befallen hatte – zu geschwächt, um weiter umherzuspazieren. Er brauchte einen Stock oder eine Krücke. In der Nähe sah er eine Bahre stehen, eine einfache Konstruktion aus Leinwand und Holz. Vielleicht konnte er eine der Stangen herausziehen und als Stab verwenden. Langsam und vorsichtig ging er zu der Bahre und verfluchte seine Schwäche, als er beinahe stürzte. Schließlich kniete er nieder und zog eine Stange aus den Stoffschlaufen. Sie war gut acht Fuß lang und ziemlich schwer, aber besser als gar nichts.
Er wollte sie gerade benutzen, um aufzustehen, als er auf der Bahre irgendetwas funkeln sah. Ein Holzsplitter, der mit seltsamen leuchtenden Zeichen bemalt war. Verwundert griff er danach.
Als er den Splitter berührte, krümmte sein Körper sich zusammen und ihm wurde speiübel. Doch selbst als er sich übergab, ließ er den Splitter nicht los. Er wusste nun, dass dieser Splitter das Fragment einer Windpfeife war. Er konnte ihn nicht fassen, denn seine Finger verweigerten ihm den Gehorsam, aber er konnte ihn berühren. Und solange er Kontakt damit hatte, kehrten Erinnerungen zurück. Solange er ihn berührte, war er Nicholas Sayre und keine Marionette der Hemisphären.
»Das Wort eines Sayre«, flüsterte er und erinnerte sich wieder an Lirael. »Ich muss es aufhalten.«
Er blieb über die Stange gebeugt und hielt den Finger auf das Fragment gedrückt, während sein Verstand nach einer Lösung für sein Dilemma suchte. Sobald er die Verbindung abbrach, würde er wieder der geistlose Sklave sein. Er vermochte es nicht aufzuheben und in der Hand zu halten. Doch es musste eine Möglichkeit geben, es irgendwie nahe genug bei sich zu haben, dass seine Magie wirksam war – und dass er nicht mehr vergaß, wer er war.
Nick untersuchte sich. Es war ein Schock zu sehen, wie mager er geworden war und auf der linken Brustseite übersät mit Blutergüssen. Sein Hemd hing in Fetzen herab und seine Hose war zerlumpt. Statt mit einem Gürtel war sie mit einem geteerten Strick um seine knöchernen Hüften befestigt. Die Taschen waren verschwunden, ebenso seine Unterkleidung.
Doch die Stulpen seiner Hose waren noch hochgeschlagen. Nick betastete sie innen mit der rechten Hand, um sicherzugehen, dass sie dicht waren. Der feine Wollstoff war dünner geworden, würde aber nicht zerreißen.
Keuchend vor Anstrengung bewegte er seinen Knöchel an das Fragment heran, so nahe er konnte, öffnete die Stulpe und benutzte die andere Hand, um den Holzsplitter hineinzustreichen. Er musste ein paarmal ansetzen, aber schließlich hatte er Erfolg. Vor Konzentration vergaß er, was er tat, bis ein paar Sekunden später der Hosenaufschlag gegen seinen Knöchel schlug. Es schmerzte, war aber erträglich.
Er wollte nicht zu den Hemisphären hinüberschauen, tat es aber trotzdem. Die erste war auf dem Kai. Viele Gestalten wieselten darum herum, befestigten neue Seile zum Ziehen und lösten die, mit denen sie an Land gehievt worden
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