Das Amulett der Seelentropfen (Seelenseher-Trilogie) (German Edition)
zögernd die Tür zur Terrasse. Ich wollte Keira auf keinen Fall wecken.
Ich fröstelte kurz, als ich in die Nacht hinaus trat. Es ging ein leichter Wind, der die vielen Pflanzen sacht hin und her wehte. Ich folgte einem der schmalen Steinwege und verschwand schnell hinter hochgewachsenen Büschen. Der Weg führte mich ans äußere Ende des Dachgartens zu einer kleinen gut versteckten Terrasse. Sie war aus roten Natursteinen und auf ihr stand ein kleiner runder Mosaiktisch mit naturbelassenen Korbstühlen. Es war ein angenehmer Ort. Er wirkte etwas unwirklich, als würde er nicht ganz zur Welt dazugehören. Der Wind hatte hier keinen Zutritt, genauso wenig wie die morgendliche Kühle.
Ich setzte mich auf einen der Stühle und sah durch ein winziges Loch im Geäst über die unzähligen Dächer der Stadt. Hier und dort waren einzelne Fenster erleuchtet und die gelblichen Straßenlaternen warfen ihre Pegel gleichmäßig auf die Bürgersteige. Das hektische und zugleich stillliegende Stadtleben beruhigte mich in diesem Moment ungemein. Ich fühlte mich, wie die Terrasse, nicht zugehörig zu dieser Welt. Ich beobachtete sie nur. Ich war ein stiller Gast, der gespannt das Treiben verfolgte. Überall konnte ich winzige Gestalten durch die Straßen laufen sehen. Es waren nicht viele, aber genug um Leben in diese nächtliche Stille zu bringen. Durch die Seelensicht sah ich die vielen roten Punkte, die sich unter mir erstreckten und die Gassen nach ahnungslosen Opfern absuchten. Ein schadenfrohes Grinsen huschte über mein Gesicht, als sie niemanden finden konnten. Alle blauen Seelenenergien befanden sich hinter den vielleicht sicheren Mauern ihrer Häuser. Wieder stellte ich erleichtert fest, dass dieses Hotel frei war von Anhängern des Zirkels.
Ich hatte mein Bewusstsein gerade durch jede einzelne Etage wandern lassen, bis ich schließlich bei unserer und zugleich letzten ankam. Unwillkürlich und überrascht erstarrte ich. Eine Seelenenergie zu hell und blau befand sich unerklärlicherweise genau mir gegenüber. Dort wo eben noch niemand gesessen hatte, saß nun ein älterer Mann. Fast hätte ich nach Keira geschrien, die sicherlich binnen Sekunden mit gezückten Schwertern neben mir gewesen wäre. Aber das Blau seiner Seelenenergie verschloss meinen Mund, bevor ich auch nur die erste Silbe ihres Namens ausgesprochen hatte. Er war nicht gefährlich, noch war er mir fremd.
Die Falten, die sich um seine Augen bildeten als er lächelte, waren wie aus einem vergangenen Traum. Ich kannte sie, hatte sie aber zugleich schon fast vergessen. Der Mann betrachtete eingehend mein Gesicht. Ich im Gegenzug wandte meinen Blick nicht von seinem. Sein weißes Haar war ordentlich gekämmt. Für sein Alter dachte ich, hatte er noch überraschend volles Haar. Sein Gesicht wurde durch einen gut gepflegten Bart eingesäumt. Seine Augen hatten ein intensives Dunkelblau. Ich hatte erwartet, dass Augen, die eine solche Farbe hatten, unglaublich kalt wirken mussten. Seine taten das nicht. Sie strahlten mich warm an und in ihnen lag eine tiefe Freude, die ich noch nicht ganz verstand. Dennoch wusste ich, wer da vor mir saß. Ich hatte mich schon früher über seine Augenfarbe gewundert. Sie waren immer eine große Faszination gewesen. Sie waren meinen so gegensätzlich und trotzdem miteinander verwandt.
»Großvater?«, brachte ich schließlich hervor. Es war ein Flüstern. Nicht mehr und nicht weniger. Eine ungläubige Frage, ob ich wach war oder schlief. Was ich vor mir sah, war unbegreiflich und trotzdem erschreckend real. Sein Lächeln wurde breiter und strahlte aus seinen Augen, die von noch tiefer werdenden Falten betont wurden.
»Janlan, meine Janlan.«
Er war es. Mein Großvater saß vor mir und sah mich an als wären seit unserer letzten Begegnung nicht zehn Jahre vergangen. Als wäre ich immer noch das neunjährige Mädchen, dass begierig jeder seiner Geschichten lauschte. Aus der anfänglichen Überraschung wurde allmählich brodelnde Wut eines verletzten Kindes, das sich völlig allein gelassen fühlte. Mein Lächeln wurde von meinem Gesicht gespült und ich spürte, wie die Hitze des Zorns in meine Brust hinauf kroch. Ich war nicht mehr neun und ich war ganz sicher kein Kind mehr.
»Großvater.«
Es war keine Begrüßung mehr, sondern ein angriffslustiger Ausspruch eines Wortes, das seine Bedeutung verloren zu haben schien. Zumindest in diesem Moment. Ich war mir sicher, dass - auch wenn ich normalerweise nicht böse gucken
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