Das Amulett des Dschinns
D. 1190
Irgendwo, weit, weit entfernt von der verzweifelten Aaliyah, schreckte Hamid abd’el Harun mit einem Keuchen aus seinem nur sehr oberflächlichen Schlaf. Er brauchte einen Moment, ehe er sich daran erinnerte, wo er sich befand: in einem Viehstall am Rande der Stadt, wo er die Nacht reichlich unruhig zwischen Ziegen und Schafen verbracht hatte.
Seine tierischen Nachbarn waren jedoch nicht der Grund für seine innere Unruhe. Nein, schuld daran war ein Traum, der ihn nun schon seit mehreren Tagen verfolgte und der ihm einfach keine Ruhe ließ.
Aaliyah kam darin vor. Sie sprach zu ihm, doch er konnte ihre Worte nicht verstehen. Aber die Tränen, die über ihre Wangen rollten, und die Verzweiflung in ihrem Blick sprachen eine mehr als deutliche Sprache.
War es nur die Sehnsucht, die ihn so voller Traurigkeit an sie denken ließ? Oder ließ seine Liebste ihm auf diese Weise eine Nachricht zukommen?
Das Band ihrer Liebe war unvermindert stark, obgleich er sie seit vielen Wochen und Monaten nicht gesehen hatte. In Aaliyah hatte er eine Seelenverwandte gefunden. Worte waren zwischen ihnen nicht vonnöten, sie verstanden einander blind. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sie schon längst gebeten, sein Weib zu werden.
Doch leider war da noch ihr Vater, der gegen eine solche Verbindung sicher etwas einzuwenden hatte.
Wenn es nach Hicham abd’el Ghazal ging, war niemand für seine jüngste Tochter gut genug. Allenfalls ein Fürst oder ein Kalif würde unter seinen Augen Gnade finden, doch selbst dessen war Hamid sich nicht sicher.
Eines aber wusste er ganz genau: Hicham abd’el Ghazal hasste ihn.
Der einzige Weg, ihm eine Zustimmung für die Vermählung mit Aaliyah abzuringen, war, zu solchem Reichtum und Ansehen zu kommen, dass er gar nicht anders konnte, als einzuwilligen.
Leider aber gestaltete sich dieses Vorhaben schwieriger als zunächst angenommen. Hamid reiste nun schon seit Monaten durch die Lande, doch ein Vermögen hatte er bisher nicht erlangt. Im Gegenteil sogar! Arm, wie er war, musste er jede Schlafstätte nutzen, die er finden konnte, und ernährte sich von dem, was andere übrig ließen.
Seine Liebe zu Aaliyah jedoch trübte all dies nicht. Und sie liebte ihn ebenfalls, daran glaubte er fest. Wie oft hatte sie ihn gebeten, mit ihm gehen zu dürfen? Sie war bereit, sogar mit ihrer Familie zu brechen, nur um bei ihm zu sein. Wenn das keine Liebe war …
Und genauso gewiss, wie er sich ihrer Gefühle war, spürte er in dieser Nacht, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
Hastig raffte Hamid all seine Habseligkeiten zusammen – viel war es ohnehin nicht. Er musste zurück zu Aaliyah und ihr beistehen, koste es, was es wolle.
Die Sterne funkelten noch hoch am nachtschwarzen Himmel, als Hamid aufbrach, um seiner Liebsten zu Hilfe zu eilen.
Gegenwart
Die Exkursion, die Professor Johnson für den übernächsten Tag angesetzt hatte, war aufgrund der jüngsten Ereignisse abgesagt worden. Lauren beklagte sich nicht darüber. Ihr stand der Sinn im Augenblick wirklich nicht nach Sightseeing. Und sie bezweifelte, dass sie die Einzige war, die so dachte.
Alle Teilnehmer der Studienreise hatten sich einer Untersuchung unterziehen müssen, um sicherzustellen, dass abgesehen von der bedauernswerten Claire niemand aus der Gruppe erkrankt war. Das Ergebnis hatte nicht lange auf sich warten gelassen: Sie waren allesamt kerngesund.
Eigentlich hätte Lauren froh sein sollen, doch sie verspürte angesichts der Tatsache, dass es nur Claire getroffen hatte, ein immer stärker werdendes Unbehagen. Die fehlenden Symptome bei Claire in den Tagen vor ihrem Tod, die Seltenheit dieser Krankheit und die Tatsache, dass sich niemand sonst aus der Gruppe angesteckt hatte …
Ich wünschte, Claire Beckett würde verrecken! Soll dieses hinterhältige Weib doch die Pest kriegen …!
Immer wieder hallte das, was Lauren so kurz vor diesem schrecklichen Ereignis gedacht hatte, in ihrem Kopf nach. Mein Gott, konnte es wirklich sein, dass …?
„Ein paar von uns wollen runter zum Strand gehen. Willst du nicht mitkommen?“ Derek, der sie schon die ganze Zeit mit größter Aufmerksamkeit überschüttete, schaute sie fragend an. „Es bringt der armen Claire ja auch nichts, wenn wir uns ihretwegen die ganze Studienreise verhageln lassen.“
Lauren fand diese Einstellung ziemlich daneben, immerhin war Claires Leichnam gerade heute erst nach England überführt worden. Die Eltern ihrer verstorbenen Kommilitonin taten ihr
Weitere Kostenlose Bücher