Das andere Kind
jetzt um die zehn Jahre alt sein, verharrte jedoch unverändert auf dem
geistigen Stand eines höchstens Fünf jährigen, der noch dazu unfähig war, sprechen zu lernen,
und wahrscheinlich würde das für immer so bleiben. Mit Emma hatte er zum zweiten Mal in seinem
kurzen Leben die Mutter verloren. Aus Gründen, die mir ewig unklar blieben, war ich seine große
Liebe, aus seiner Sicht sogar fähig, den Verlust Emmas emotional auszugleichen. Bloß sah es
leider so aus, als könnte auch ich nicht bleiben. Was sollte aus ihm werden?
Arvid hatte ihn nie gewollt, sich nie um ihn gekümmert. Was sollte er in seiner Situation
anfangen mit einem geistig behinderten kleinen Jungen?
Ein Heim, dachte ich, nun wird wohl endgültig nichts anderes übrig bleiben, als ihn tatsächlich
in ein Heim zu geben. Mir war nicht wohl bei diesem Gedanken. Aber was hätte ich schon tun
können?«
Bis zum Abend strahlte das Haus vor Sauberkeit, die klamme Luft war jetzt
warm und trocken, es roch nach dem Holz, das in den Kaminen brannte, und nach dem Essen, das
ich vorbereitet hatte. In den Fenstern leuchteten Kerzen. Ich hatte außerdem Nobody gebadet und
ihm frische Kleider angezogen und auch mich selbst so hübsch wie möglich gemacht. Es sollte
Arvid zumindest schwer fallen, mich fortzuschicken. Draußen fielen dicke Schneeflocken. Drinnen
lagen zwei schnurrende Katzen auf dem Sofa im Wohnzimmer. Arvid musste die Veränderung einfach bemerken, wenn er nach einem
langen, harten Tag müde und verfroren zurückkam.
Als ich seine Schritte vor der Tür hörte, stand ich auf, strich meinen Rock glatt und trat in
den Flur hinaus, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Ich vernahm das Poltern, mit dem
er sich den Schnee von den Schuhen trat.
Die Tür ging auf, und zwei Männer traten ein. Es waren Arvid und Harold.
»Lass uns offen miteinander reden«, sagte Harold. Er sah müde aus, und er war nüchtern.
Letzteres war ich an ihm kaum gewöhnt. Er schien mir verändert.
Wir saßen in der Küche. Arvid hatte es sich im Wohnzimmer gemütlich
gemacht, Nobody hatte ich ins Bett geschickt, aber ich meinte gelegentlich ein Scharren auf der
Treppe zu hören, das mir verriet, dass er sich dort herumdrückte und
wahr scheinlich wieder meine Nähe suchte. Wir hatten alle zusammen
gegessen, wobei ich fast keinen Bissen heruntergebracht hatte und mich nicht einmal hatte
freuen können, dass Arvid meine Arbeit vom Nachmittag lobte - auf seine wortkarge Art. »Sieht
schön aus, das Haus. Dein Essen schmeckt.«
Er und Harold hatten einander am Hoftor getroffen. Arvid war von einer der Schafweiden
zurückgekehrt, Harold hatte den Weg von der Bushaltestelle hinter sich und war tief erleichtert
gewesen, auf eine menschliche Behausung zu stoßen. Vermutlich hatte Arvid sofort geahnt, wen er
da vor sich hatte.
»Ich weiß, dass du mich nicht ausstehen kannst«, fuhr Harold nun fort. Seine Hände lagen vor
ihm auf dem Tisch, nervös ineinander verknotet. »Wobei ich keine Ahnung habe, weshalb das der
Fall ist, denn ich habe dir schließlich nichts getan ... aber es ist, wie es ist.« Ich sagte
nichts. Was hätte ich auch entgegnen sollen? »Was mich betrifft, ich würde ja notfalls sagen,
bleib hier, wenn Mr. Beckett damit einverstanden wäre, aber ich würde das keineswegs für eine
glückliche Lösung halten, und ... Na ja, ist auch ganz gleich, was ich denke. Fiona, es geht
nicht. Wegen deiner Mum. Ich kann dich nicht hier lassen. Sie würde nicht damit
zurechtkommen.«
»Sie ist fast zwei Jahre lang damit zurechtgekommen«, sagte ich. »Da hatte es auch einen Sinn,
dass du hier warst. Du warst in London bedroht. Jetzt ist das nicht mehr der Fall.«
»Der Krieg ist noch nicht vorbei.«
»Er wird nicht mehr lange dauern«, prophezeite Harold. »Den Deutschen läuft das Glück davon.
Sie sind bald am Ende.« Das interessierte mich kein bisschen im Augenblick. Harold kramte ein
Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe mir
freigenommen, um hierher zu kommen«, sagte er, »und deiner Mum habe ich dicke Lügen erzählt,
weil sie natürlich merkt, dass ich sie zwei Tage lang nicht im Krankenhaus besuche. Sie soll
auf keinen Fall wissen, dass du abgehauen bist. Sie darf sich nicht aufregen.«
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Ich wusste es nicht. Aber ich konnte es mir denken.«
»Du hättest nicht kommen müssen.«
»Und was soll ich deiner Mum sagen?
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