Das andere Kind
bereits wieder von dicken Schweißtropfen. »Mein Boss
war ziemlich verärgert wegen der zwei Tage Urlaub, meine Frau wird mir ein Loch in den Bauch
fragen und soll aber von Fionas Ausbruch nichts wissen. Ich bin ... ich kann nicht noch ...
«
»Verstehe ich«, sagte Arvid. Er klang enttäuscht. Er hätte sich Nobodys gern auf eine möglichst
unkomplizierte Weise entledigt. »Hier oben gibt's bestimmt auch Waisenhäuser«, meinte
Harold.
Arvid wirkte ziemlich ratlos. So jung ich war, begriff ich doch instinktiv
sein Dilemma. Er hatte stets dafür plädiert, das andere Kind
wegzubringen, wie er es immer formuliert hatte, und im Grunde hätte
ihn nun, da Emma tot war, niemand mehr daran hindern können, genau dies zu tun. Aber gerade
Emmas Tod wiederum bremste ihn. Emma hatte Brian geliebt wie ihr eigenes Kind, sie hatte wie
der Engel mit dem Flammenschwert vor ihm gestanden und ihn beschützt. Bei all seiner herben,
wenig einfühlsamen Art löste doch der Gedanke, kurz nach der Beerdigung seiner Frau etwas zu
tun, was sie unter keinen Umständen gebilligt hätte, einen Konflikt in Arvid aus. Er hätte es
geschafft, ihn uns mitzugeben und sich einzureden, wir würden schon das Richtige tun. Das Kind
an die Hand zu nehmen und selbst zum nächsten Waisenhaus zu marschieren, war etwas ganz
anderes. Die Situation, die dadurch entstand, war natürlich die denkbar ungünstigste für den
kleinen Nobody: Arvid wollte ihn nicht, schaffte es aber auch nicht, ihn abzugeben. Eine
Stagnation in Unzufriedenheit, Ärger, Tatenlosigkeit und Frustration war vorhersehbar. Nobody
würde der Kälte und Bitterkeit des einsamen Arvid vollkommen wehrlos ausgeliefert
sein.
Als ich am nächsten Morgen in aller Frühe mit Harold zur Landstraße
aufbrach, um do rt in den Bus nach Scarborough zu steigen, bleischweren Herzens und voller Trauer, klammerte sich der Kleine an mich.
Tränen liefen über sein blasses Gesicht. »Fiona«, rief er, »Fiona! Boby!«
Ich strich ihm über die Haare. Zum Abschied schaffte ich es sogar, sanft zu ihm zu sein. »Fiona
kommt wieder«, versprach ich. »Fiona kommt und holt Boby. Versprochen.«
Seine hellblauen Augen waren voller Hoffnung auf mich gerichtet, vertrauensvoll und erfüllt von
Liebe und Zuversicht. Ganz kurz regte sich mein schlechtes Gewissen: Wiederkommen würde ich
sicher. Ihn holen, nein. Ich vermutete, dass Arvid nach ein paar Wochen oder Monaten der Pietät
sich seiner toten Frau nicht mehr verpflichtet fühlen und den Jungen doch noch in ein
Waisenhaus bringen würde.
Ich war überzeugt, Nobody nie wiederzusehen, und diese Überzeugung sollte sich auch
bewahrheiten. Ich sah ihn nie wieder. Das letzte Bild, das ich von ihm habe, ist dieses: das
Hoftor der Beckett-Farm an einem verschneiten, sehr kalten Februarmorgen des Jahres 1943.
Tiefhängende, graue Wolken am Himmel, gejagt vom schneidenden Wind. Trostlosigkeit, Einsamkeit,
der Frühling in ewiger Ferne. Ein kleiner Junge steht im Tor, viel zu dünn angezogen, zitternd
vor Kälte. Er schaut uns nach. Weint. Versucht, unter Tränen zu lächeln. Winkt.
Ich hatte es geschafft, ihm Zuversicht zu geben, dies ließ ihn den Moment ertragen. Denn
schließlich würde ich zu ihm zurückkommen.
Er glaubte es wirklich.
MITTWOCH, I5. OKTOBER
Sie lief am Hafen entlang, wütend, verstört, den
Kopf gesenkt, die Arme um den Körper geschlungen, die Nässe abwehrend, die auf sie eindrang und
gegen die ihre dünne Regenjacke nur unzureichend Schutz bot. Es war früh am Morgen, und der
Nebel waberte über der Bucht und über dem Land, das Wetter war um nichts besser geworden seit
dem vergangenen Tag. Möwen schienen aus dem Nichts aufzutauchen und im Nichts zu verschwinden.
Manchmal klangen die Nebelhörner der Schiffe über das unsichtbare Wasser. Obwohl es ein
normaler Arbeitstag war, befanden sich noch nicht viele Menschen auf der Straße. Oder zumindest
konnte man wohl die meisten nicht sehen.
Sie hatte hinausgemusst, laufen, den Kopf
freibekommen, nachdem sie sich seit den frühen Morgenstunden schlaflos in ihrem Bett,
eigentlich in Fionas Bett, gewälzt hatte. Das Gästezimmer hatte sie an Stephen
abgetreten.
Stephen.
Sie hatten gegessen, Wein
getrunken, den anonymen Anrufer in stillschweigender Übereinkunft nicht mehr erwähnt. Danach
hatte Step hen die Küche aufgeräumt, Les lie hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt und die Mails ihrer Großmutter an Chad gelesen.
Eine friedliche, heimelige
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