Das andere Kind
Die im Krankenhaus liegt, Schmerzen hat und sich die Augen
ausweint, weil sie unser Kind verloren hat? Was soll ich ihr antworten, wenn sie fragt, weshalb
du sie nicht besuchst? Was soll ich ihr sagen, wenn sie nach Hause kommt und mich fragt, wo du
bist?«
Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte nicht richtig darüber nachgedacht, was ich meiner Mutter
antat.
»Fiona, ich mach das hier für deine Mum«, sagte Harold, und ich meinte, in seinen schwammigen
Zügen einen Ausdruck zu erkennen, den ich an ihm vorher nie gesehen hatte:
Entschlossenheit.
»Es geht nicht um mich und nicht um dich. Es geht um deine Mum. Du musst mit mir zurückkommen.
Bitte. Sie verzweifelt, wenn du es nicht tust.«
»Sie hat doch dich«, sagte ich.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das kannst du nicht vergleichen. Du bist ihr Kind.
Ihr einziges. Und, na ja, ich hab dir ja gesagt, es sieht so aus, dass du auch das einzige
bleibst.«
Es war echter Schmerz in seiner Stimme. Der Verlust seines Sohnes hatte ihn
tief getroffen, hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Er war ein anderer Harold als der,
den ich kennen gelernt hatte: verletzt, trostlos, a ber zugleich
stark genug, sich seinem Kummer nicht willenlos zu überlassen. Ich
hätte erwartet, dass er in eine Ecke fallen und hemmungslos Alkohol in sich hineinschütten
würde. Stattdessen war ihm so sehr am Wohl meiner Mutter gelegen, dass er sich in den Zug
setzte, nach Scarborough reiste, mich aufspürte und nun zum Mitkommen zu bewegen versuchte. Ich
verfiel keineswegs der Illusion zu glauben, er werde sich nicht bald wieder in den alten
Trinker verwandeln, der er auch bisher gewesen war. Aber es gab offenbar eine andere Seite in
ihm, und diese Seite durfte ich für eine kurze Zeit sehen. Zum ersten Mal empfand ich einen
Anflug von Achtung für ihn.
»Wie stellst du dir das hier überhaupt vor?«, fragte er. Beim Abendessen hatte er von den
tiefgreifenden Veränderungen auf der Beckett-Farm erfahren. »Ich meine, du und dieser Arvid
hier ganz allein ... das geht doch nicht!«
»Brian ist ja auch noch hier!« »Ein kleiner Junge! Meine Güte, Fiona! Glaubst du ernsthaft,
dass deine Mum das auch nur einen Tag lang dulden würde?« Ich sank in mich zusammen. Ich hatte
alle gegen mich: Mum, Harold, Arvid. Ich hatte keine Chance.
Arvid kam in die Küche. »Kann ich einen Tee haben?«, fragte er.
Ich war froh, mich umdrehen und den Pumpenschwengel betätigen zu können, um Wasser in den
Kessel zu füllen. So sahen die beiden Männer nicht, dass mir die Tränen in die Augen
stiegen.
»Sie muss morgen mit mir nach London zurückkehren«, sagte Harold.
»Denk ich auch«, meinte Arvid.
Ich stellte den Kessel auf den Herd. Meine Hand zitterte etwas.
»Meiner Frau ... Fionas Mum .. . ihr geht's
nicht so gut«, be richtete Harold, der aus irgendwelchen Gründen
Vertrauen zu dem wortkargen Arvid zu fassen schien. »Hat gerade ein Kind verloren. Unseren
Sohn. Sollte im Sommer zur Welt kommen.«
»Tut mir leid«, sagte Arvid unbehaglich.
»Ja. War schlimm, sehr schlimm.« Harold wischte sich erneut mit dem Taschentuch über die Stirn.
Ich wunderte mich, die Küche war warm, aber keineswegs überheizt. Später erst begriff ich, was
Harold an jenem Abend so zu schaffen machte: Er war auf Entzug. Um diese Uhrzeit tankte er sich
für gewöhnlich flaschenweise mit Alkohol auf. Sein Körper reagierte auf die ungewohnte
Abstinenz mit starken Schweißausbrüchen.
»Hätte einen kleinen Jungen für Sie«, sagte Arvid. Er wies zur Küchentür, an der sich Nobody,
in seinem etwas schmuddeligen, gestreiften Schlafanzug steckend, herumdrückte. »Das andere Kind
dort. Weiß nicht, wohin mit ihm!«
»Nicht Ihr Sohn?«, fragte Harold. Arvid schüttelte den Kopf. »Kam auch aus London. Mit Fiona
damals. Hat aber niemanden mehr auf der Welt.« »Seine ganze Familie ist ums Leben gekommen«,
sagte ich. »Das Haus wurde von einer Bombe getroffen.«
»Verwandte?«
»Nein.«
»Armer Kerl«, sagte Harold. Er tippte sich vielsagend an die Stirn. »Er ist etwas gaga,
oder?«
»Total zurückgeblieben«, bestätigte Arvid.
Schweigen. Es war klar, dass auch Harold absolut nicht scharf war auf Nobody.
»Er müsste in ein Heim«, sagte er schließlich.
»Klar, müsste er. Schon längst«, stimmte Arvid zu.
»Hören Sie, ich würde ihn für Sie mitnehmen nach London, aber ich habe im
Moment schon zu viele Scherereien«, sagte Harold. Sein Gesicht glä nzte
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