Das andere Kind
Atmosphäre. Es war schön, nicht allein in einer Wohnung zu sein. Sie
hatte schon gar nicht mehr gewusst, wie es sich an fühlte.
Sie kam Fiona näher durch die Lektüre,
zweifellos. Sie erfuhr Details, die sie nicht gekannt hatte, begann Wesenszüge und
Besonderheiten der Verstorbenen zu verstehen. Vor allem aber hatte sie langsam ein Gefühl der
Bedrohung, des schleichenden Unheils befallen. Fiona hatte von Schuld geschrieben. Noch immer
war es Leslie nicht klar, worauf das alles hinauslief, aber sie hatte begonnen, zunehmend
unruhig zu werden, sich Sorgen zu machen, eine Ahnung von etwas Schrecklichem zu entwickeln,
ohne zu wissen, worin es bestand. Sie hätte wahrscheinlich die ganze Nacht weitergelesen, wäre
nicht Stephen plötzlich ins Zimmer gekommen, nervös, die Wangen leicht gerötet. »Ich muss mit
dir sprechen, Leslie. Hast du gerade Zeit?« Sie hatte von ihrer Lektüre aufgeblickt. »Was gibt
es denn?«
»Ich wollte dir etwas sagen ... schon lange
... aber du hast mir nie die Gelegenheit gegeben, mich länger mit dir zu unterhalten ...
«
Die Härchen an ihren
Armen stellten sich auf. Ich will es nicht wissen!
Trotzdem sagte sie: »Ja? Was
denn?«
Er hatte
sich hingesetzt. Hatte einige Momente gezögert, offensichtlich überlegt, wie er am besten anfangen könnte.
»Damals, nach unserer
Trennung«, sagte er schließlich, »als du beschlossen hattest, dass ich ausziehen soll ... Ich
habe eine Therapie begonnen. Sie dauerte ungefähr ein Jahr.«
»Eine Therapie?« »Die
Therapeutin ist vor allem auf Partnerschaftsprobleme spezialisiert. Ich ... ich wollte wissen,
warum das alles geschehen ist.«
Sie erinnerte sich, dass
ihr Mund von einer Sekunde zur nächsten ganz trocken geworden war. Was jedes Mal passierte,
wenn sie an jenen Abend erinnert wurde. Warum bloß kam sie nicht darüber hinweg, konnte nicht
endlich gelassen damit umgehen?
»Ja, und?«, fragte
sie.
»Weißt du, welche Frage
sie mir als Erstes stellte? Sie fragte: >Worin bestehen Ihre Defizite in Ihrer Ehe, Dr.
Cramer?< Und ich sagte sofort, dass da keine seien.«
Sie hatte über die
Blätter gestrichen, die vor ihr lagen, eine Geste, die weniger das Papier glätten, als vielmehr
dazu dienen sollte, ihre Nervosität zu beschwichtigen. Plötzlich war ihr die Situation wie ein
Überfall vorgekommen. Sie hatte hier gesessen, gelesen, war versunken gewesen in eine andere
Welt, in eine andere Zeit. Sie war Fiona nahe gewesen und hatte sich damit auch den Wurzeln
ihrer eigenen Geschichte und der ihrer Mutter genähert. Die Realität hatte für ein oder zwei
Stunden nicht existiert. Und nun tauchte Stephen auf, konfrontierte sie ohne jeden sanfteren
Übergang mit einer der traumatischsten Situationen ihres bisherigen Lebens.
Ich hätte ihn einfach
hinauswerfen sollen. Ich hätte mich weigern sollen, mit ihm zu sprechen. Was muss ich mir den
Mist anhören, den er sich in hundert Therapiestunden aus den Fingern saugt?
Irgendwie hatte sie
sofort gewusst, worauf das Gespräch hinauslief. Sie hatte ihn angeschaut, scheinbar kühl,
innerlich zitternd.
»Und dann habt ihr, du
und deine Therapeutin, in langen Gesprächen
herausgefunden, dass es
da doch Defizite gab?«
»Das war es doch, was du
immer gesagt hast. Immer wenn ich dir klarzumachen versuchte, dass es wirklich nur ein ... ein
Irrtum war, ein Versehen, eine Kombination aus Leichtsinn und zu viel Alkohol, hast du
nachgehakt. Da müsste mehr sein, es müsste eine Unzufriedenheit bei mir da sein, so etwas würde
nicht aus heiterem Himmel passieren. Und so weiter.«
»Stephen, ich ...
«
»Und ich wollte nur, dass
du weißt, du hattest recht«, unterbrach er sie rasch. »Es war so. Ich meine, es hatte einen
Grund, dass mir das damals passiert ist.«
Ich will den Grund nicht
wissen. Nicht mehr.
Warum hatte sie das nur
gedacht? Nicht gesagt. Den Mund nicht aufbekommen. Abwehr gespürt, sie aber nicht
artikuliert?
Weil sich der Schock von
damals noch nicht gelöst hat, dachte sie nun, während sie durch den Nebel lief wie durch die
wabernde Feuchtigkeit einer Waschküche, weil ich immer noch unter Schock stehe.
»Ich glaube, ich habe
dich oft als sehr kalt empfunden und mir das nicht eingestehen wollen. Ich habe mich unterlegen
gefühlt, weil ich derjenige war, der stärker liebte. Ich habe immer befürchtet, dass du gehen
würdest, wenn ein tollerer, interessanterer, aufregenderer Mann käme. Ich ... «
Sie war endlich in
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