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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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auf sich, sie sei kalt gewesen? Hatte Stephen sich das
    eingebildet, es sich eingeredet, um die Augen vor der Tatsache verschließen zu können, dass er
    mit ihrem beruflichen Erfolg, mit all ihren großen Ambitionen nicht zurechtkam? Oder war sie es
    wirklich: Kalt?
    Mehr denn je war
    ihr in der letzten Nacht klar geworden, wie sehr sie ihre Kindheit und Jugend hindurch neben
    Fiona gefroren hatte. Fiona hatte über eine Menge guter und bewundernswerter Eigenschaften
    verfügt, aber eines ließ sich nicht leugnen: Herzenswärme und Einfühlsamkeit hatten nicht
    dazugehört. Was das betraf, hatte man stets Bedürftigkeit in ihrer Nähe empfunden, hatte einen
    ständigen Hunger gespürt, der nicht gestillt wurde. Die kleine Leslie hatte darunter gelitten,
    viel mehr, als ihr bewusst gewesen war. Aber wie weit war sie auch davon geprägt worden? Wie
    unfähig war sie heute selbst, Wärme, Liebe und Zärtlichkeit zu verströmen?
    »Ich weiß es
    nicht«, sagte sie laut, »ich weiß es einfach nicht!«
    »Was wissen Sie
    nicht?«, fragte eine Stimme hinter ihr, und sie fuhr herum. Dave Tanner stand dort, aus dem
    Nebel aufgetaucht wie aus dem Nichts, gekleidet in eine schwarze Regenjacke, deren Kapuze er
    sich über den Kopf gezogen hatte. Er wirkte verfroren.
    »Entschuldigen
    Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe Sie drüben vom Kai aus gesehen, und
    da dachte ich ... « Er sagte nicht, was er gedacht hatte.
    »Ach, Sie sind es«,
    sagte Leslie und versuchte die Gedanken abzuschütteln, die sie so sehr bedrängten. »Ich hätte
    nicht geglaubt, dass noch jemand außer mir so früh bei dem scheußlichen Wetter draußen
    herumrennt.«
    Er lächelte.
    »Manchmal muss man einfach raus. Egal, wie das Wetter gerade ist.«
    Vielleicht floh er
    auch vor etwas, vielleicht nur vor seinem trostlosen Zimmer. Wie sah ein Tag in dieser
    Unterkunft auf, wenn draußen der Nebel wogte und man nichts zu tun hatte, allein war, ohne
    Perspektive? Dabei fiel ihr etwas ein. »War Gwen zufällig bei Ihnen? Colin und Jennifer
    vermissten sie gestern.«
    Er nickte. »Sie war
    bei mir. Den ganzen gestrigen Tag. Die ganze Nacht. Zum ersten Mal.«
    »Sie hat noch nie
    vorher bei Ihnen übernachtet?«, fragte Leslie verwundert. Sie dachte an die schwarze
    Strumpfhose in Daves Zimmer. Vielleicht hatte es nachmittägliche Treffen gegeben, Gwen war dann
    abends jedoch immer gewissenhaft auf die Farm zurückgekehrt. Es wurde Zeit, dass sich ihr Leben
    änderte, es wurde wirklich Zeit.
    »Nein«, sagte er,
    »noch nie.«
    Er sah unglücklich
    aus. Deprimiert. Sorgenvoll.
    In plötzlicher Erkenntnis dachte Leslie: Er flüchtet vor ihr! Deshalb läuft er heute früh hier draußen
    herum.
    Als hätte er
    ihre Gedanken gelesen, fragte er: »Und Sie? Was treibt Sie um diese Zeit hinunter zum
    Hafen?«
    »Mein Exmann.
    Ich bin wieder einmal mit ihm aneinander geraten.«
    Auf seinen
    irritierten Blick hin fugte sie hinzu: »Er ist hier plötzlich aufgekreuzt. Wollte mich
    unterstützen wegen des Todes meiner Großmutter. Er hat es gut gemeint. Aber wir beide unter
    einem Dach... es funktioniert einfach nicht.«
    Er sagte
    nichts, aber Leslie hatte den Eindruck, dass er sie verstand. Schließlich fragte er:
    »Haben Sie
    schon gefrühstückt?«
    Und als sie
    den Kopf schüttelte, nahm er kurzerhand ihren Arm und zog sie mit sich fort. »Kommen Sie. Ich
    weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin nass und völlig verfroren. Ich brauche unbedingt
    einen starken Kaffee.« Sie folgte ihm, dankbar und erleichtert.
    »Bingo!«,
    sagte Valerie. »Ich wusste es!«
    Sie legte den Telefonhörer auf Sergeant Reek hatte sie beim Frühstück unterbrochen, was
    sie für gewöhnlich gar nicht mochte, da es die einzige Mahlzeit am Tag war, die sie
    einigermaßen in Ruhe einnahm -mit Toastbrot , einem Spiegelei, Kaffee und den Nachrichten aus
    dem Radio. Für den Rest des Tages reichte e s zumeist nur für ein
    Sandwich zwischendurch, das stärker nach seiner Plastikverpackung
    als nach seinem Belag schmeckte, und abends kam sie meist so spät und so müde nach Hause, dass
    sie keine Lust und keine Kraft mehr hatte, noch etwas zu kochen.
    Aber
    Reek hatte ihr eine gute Nachricht übermittelt, und ihre Stimmung hatte sich gewaltig
    gehoben.
    Nachdem
    er ihr mitgeteilt hatte, dass Leslie Cramers Angaben der Überprüfung standgehalten hatten -
    »Sie war tatsächlich zur Tatzeit im Jolly Sailors, und der Wirt ist jetzt noch ganz frappiert,
    dass eine

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