Das andere Kind
auf sich, sie sei kalt gewesen? Hatte Stephen sich das
eingebildet, es sich eingeredet, um die Augen vor der Tatsache verschließen zu können, dass er
mit ihrem beruflichen Erfolg, mit all ihren großen Ambitionen nicht zurechtkam? Oder war sie es
wirklich: Kalt?
Mehr denn je war
ihr in der letzten Nacht klar geworden, wie sehr sie ihre Kindheit und Jugend hindurch neben
Fiona gefroren hatte. Fiona hatte über eine Menge guter und bewundernswerter Eigenschaften
verfügt, aber eines ließ sich nicht leugnen: Herzenswärme und Einfühlsamkeit hatten nicht
dazugehört. Was das betraf, hatte man stets Bedürftigkeit in ihrer Nähe empfunden, hatte einen
ständigen Hunger gespürt, der nicht gestillt wurde. Die kleine Leslie hatte darunter gelitten,
viel mehr, als ihr bewusst gewesen war. Aber wie weit war sie auch davon geprägt worden? Wie
unfähig war sie heute selbst, Wärme, Liebe und Zärtlichkeit zu verströmen?
»Ich weiß es
nicht«, sagte sie laut, »ich weiß es einfach nicht!«
»Was wissen Sie
nicht?«, fragte eine Stimme hinter ihr, und sie fuhr herum. Dave Tanner stand dort, aus dem
Nebel aufgetaucht wie aus dem Nichts, gekleidet in eine schwarze Regenjacke, deren Kapuze er
sich über den Kopf gezogen hatte. Er wirkte verfroren.
»Entschuldigen
Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe Sie drüben vom Kai aus gesehen, und
da dachte ich ... « Er sagte nicht, was er gedacht hatte.
»Ach, Sie sind es«,
sagte Leslie und versuchte die Gedanken abzuschütteln, die sie so sehr bedrängten. »Ich hätte
nicht geglaubt, dass noch jemand außer mir so früh bei dem scheußlichen Wetter draußen
herumrennt.«
Er lächelte.
»Manchmal muss man einfach raus. Egal, wie das Wetter gerade ist.«
Vielleicht floh er
auch vor etwas, vielleicht nur vor seinem trostlosen Zimmer. Wie sah ein Tag in dieser
Unterkunft auf, wenn draußen der Nebel wogte und man nichts zu tun hatte, allein war, ohne
Perspektive? Dabei fiel ihr etwas ein. »War Gwen zufällig bei Ihnen? Colin und Jennifer
vermissten sie gestern.«
Er nickte. »Sie war
bei mir. Den ganzen gestrigen Tag. Die ganze Nacht. Zum ersten Mal.«
»Sie hat noch nie
vorher bei Ihnen übernachtet?«, fragte Leslie verwundert. Sie dachte an die schwarze
Strumpfhose in Daves Zimmer. Vielleicht hatte es nachmittägliche Treffen gegeben, Gwen war dann
abends jedoch immer gewissenhaft auf die Farm zurückgekehrt. Es wurde Zeit, dass sich ihr Leben
änderte, es wurde wirklich Zeit.
»Nein«, sagte er,
»noch nie.«
Er sah unglücklich
aus. Deprimiert. Sorgenvoll.
In plötzlicher Erkenntnis dachte Leslie: Er flüchtet vor ihr! Deshalb läuft er heute früh hier draußen
herum.
Als hätte er
ihre Gedanken gelesen, fragte er: »Und Sie? Was treibt Sie um diese Zeit hinunter zum
Hafen?«
»Mein Exmann.
Ich bin wieder einmal mit ihm aneinander geraten.«
Auf seinen
irritierten Blick hin fugte sie hinzu: »Er ist hier plötzlich aufgekreuzt. Wollte mich
unterstützen wegen des Todes meiner Großmutter. Er hat es gut gemeint. Aber wir beide unter
einem Dach... es funktioniert einfach nicht.«
Er sagte
nichts, aber Leslie hatte den Eindruck, dass er sie verstand. Schließlich fragte er:
»Haben Sie
schon gefrühstückt?«
Und als sie
den Kopf schüttelte, nahm er kurzerhand ihren Arm und zog sie mit sich fort. »Kommen Sie. Ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin nass und völlig verfroren. Ich brauche unbedingt
einen starken Kaffee.« Sie folgte ihm, dankbar und erleichtert.
»Bingo!«,
sagte Valerie. »Ich wusste es!«
Sie legte den Telefonhörer auf Sergeant Reek hatte sie beim Frühstück unterbrochen, was
sie für gewöhnlich gar nicht mochte, da es die einzige Mahlzeit am Tag war, die sie
einigermaßen in Ruhe einnahm -mit Toastbrot , einem Spiegelei, Kaffee und den Nachrichten aus
dem Radio. Für den Rest des Tages reichte e s zumeist nur für ein
Sandwich zwischendurch, das stärker nach seiner Plastikverpackung
als nach seinem Belag schmeckte, und abends kam sie meist so spät und so müde nach Hause, dass
sie keine Lust und keine Kraft mehr hatte, noch etwas zu kochen.
Aber
Reek hatte ihr eine gute Nachricht übermittelt, und ihre Stimmung hatte sich gewaltig
gehoben.
Nachdem
er ihr mitgeteilt hatte, dass Leslie Cramers Angaben der Überprüfung standgehalten hatten -
»Sie war tatsächlich zur Tatzeit im Jolly Sailors, und der Wirt ist jetzt noch ganz frappiert,
dass eine
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