Das andere Kind
Samstag.«
»Hm«, machte Colin.
Außer ihm und Jennifer sorgte sich offenbar keiner. Gwens eigener Vater nicht, aber auch Leslie
Cramer hatte in einer Mischung aus Sorglosigkeit und Gereiztheit reagiert. Verärgert dachte er
an das Telefonat vom Vorabend. Im Grunde hatte er Leslie von Anfang an nicht besonders
sympathisch gefunden, und diese Einschätzung hatte sich nun bestätigt.
»Ich weiß, es ist nicht in Ordnung, dass Gwen nicht da ist und das Frühstück macht«,
sagte Chad. »Wenn sie hier schon an Feriengäste vermietet, muss sie
sich auch kümmern. Sie werden selbstverständlich einen Nachlass bekommen, wenn Sie abreisen,
Colin.«
»Ich bitte Sie.
Deshalb habe ich ihre Abwesenheit nicht angesprochen. Ich sehe Jennifer und mich weiter eher
als Freunde denn als Feriengäste, und es ist überhaupt kein Problem, das Frühstück einmal
selbst zuzubereiten. Nein, ich mache mir nur Gedanken. Es passt nicht zu Gwen, eine ganze Nacht
wegzubleiben und niemandem Bescheid zu sagen.«
»Die jungen Leute sind so«, meinte Chad, und wieder einmal fragte sich Colin, ob Chad
seine Tochter überhaupt als die Gwen sah, die sie nun einmal war, oder ob sie eine Art
Gegenstand in seinem Haus darstellte, nicht viel anders als das Sofa im Wohnzimmer oder der
Tisch in der Küche, etwas, das man brauchte, an das man sich gewöhnt hatte, über das man aber
nie nachdachte oder es sich genauer betrachtete. Wenn er sagte: Die
jungen Leute sind so, dann schien er über einen Teenager zu sprechen
und nicht über eine Frau von Mitte dreißig. Und: vor allem nicht über Gwen. Denn wenn sie eines
nicht war und nie gewesen war, dann Teil der Szene, die die jungen
Leute darstellte. Das gerade machte ihre Besonderheit aus, aber auch
ihre Tragik. Ihr Vater schien nichts davon begriffen zu haben.
Colin setzte sich, griff nach der Kaffeekanne. Er hätte Chad gern auf die Aufzeichnungen
angesprochen, die er von Fiona geschickt bekommen und die inzwischen jeder im Haus gelesen
hatte, aber er wagte es nicht. Chad hatte keine Ahnung, dass seine;: Tochter in seinen E-Mails
gestöbert hatte, geschweige denn, dass sie das, was ihr dort untergekommen war, an andere
Menschen weitergegeben hatte. Andererseits bargen sie ein Potenzial,
das angesichts der Ereignisse ... Aber das würde Leslie entscheiden
müssen. Wenn sie alles gelesen hatte, musste sie die nächsten Schritte bestimmen. Er und
Jennifer waren Außenstehende. Sie konnten sich nicht einmischen.
Jennifer
kam ins Zimmer, in frischen Jeans, einem sauberen Pullover, die Haare notdürftig in Form
gebracht. Wieder einmal dachte Colin, dass sie eine sehr anziehende Frau hätte sein können,
wäre nur etwas mehr Fröhlichkeit in ihren Zügen erkennbar. Das Unglücklichsein hatte sich tief
in ihr Gesicht gegraben. Nur Cal und Wotan vermochten es zu entspannen. Einem Menschen gelang
das nicht, auch nicht ihrem eigenen Mann.
»Ich
werde nach Scarborough fahren«, erklärte sie. »Ich will ein bisschen bummeln, einkaufen,
vielleicht in einer Buchhandlung stöbern. Ich habe Lust auf ein paar gemütliche Lesestunden auf
dem Sofa.« Colin lächelte. »Und du wirst nicht zufällig bei Dave Tanner vorbeigehen und
nachsehen, ob Gwen dort ist?« Jennifer ließ sich nicht in Verlegenheit bringen. »Kann sein, ja.
Irgendjemand muss sich ja um sie kümmern.«
Die
Spitze ging in Richtung Chad, der sich jedoch unbeeindruckt zeigte. Er trank schweigend seinen
Kaffee. Es lag Spannung in der Luft, aber zum Glück schien niemand gewillt, sie zum Ausbruch
kommen zu lassen.
»Ich
weiß nicht, ob ich zum Mittagessen zurück bin«, sagte Jennifer nach einer Weile. »Es wäre nett,
wenn du die Hunde dann kurz hinauslassen könntest, Colin.«
Er versprach ihr, dies zu tun. Er freute sich. Es war ein gutes Zeichen, dass Jennifer Anflüge
von Unternehmungslust zeigte, auch wenn sie wohl tatsächlich vor allem von ihrer Sorge um Gwen
dazu getrieben wurde. Aber vielleicht würde sie es sich wirklich n ett machen, in Geschäften stö bern, durch die Stadt
schlendern, bei einem Italiener eine Portion Pasta essen. Es waren Ansätze, immerhin. Nach
ihrer Entlassung aus dem Schuldienst hatte sie sich zehn Monate lang im Haus vergraben, war
keinen Schritt vor die Tür gegangen. Colin beglückwünschte sich noch heute zu seiner Idee, ihr
die großen Hunde einzureden. Die Notwendigkeit, sie regelmäßig spazieren zu fuhren, hatte
damals den Durchbruch dargestellt.
»Nimmst du den
Weitere Kostenlose Bücher