Das andere Kind
möchte raus aus dem Leben, das ich führe«,
erklärte er, »ich muss raus. Ich kann so
nicht weitermachen. Aber ich brauche etwas ... worauf ich aufspringen kann. Ich habe nichts
vorzuweisen als ein abgebrochenes Studium und eine lange Kette von Gelegenheitsjobs, mit denen
ich mich seit fast zwanzig Jahren leidlich durchschlage.«
»Möchten Sie die Schafzucht auf der Beckett- Farm wiederbeleben?«
Er schüttelte den Kopf. »Dafür eigne ich mich, denke ich, nicht. Ich möchte das ausbauen, was
Gwen jetzt bereits in ganz kleinem Stil und leider sehr unprofessionell betreibt: Ich möchte
die Farm anziehend für Feriengäste machen. Yorkshire wird immer mehr zu einem der beliebtesten
Feriengebiete in England. Die Farm bietet tausend Möglichkeiten, ohne dass man ihren Charme,
ihre Ursprünglichkeit verändern muss. Das Haus braucht saubere, geräumige Gästezimmer. Es muss
einen sicheren, einfachen Weg hinunter in die Bucht geben, die Leute sollen nicht durch diese
verwilderte Schlucht turnen müssen. Man muss Bademöglichkeiten schaffen. In den Ställen kann
man Ponys halten und Trekkingtouren anbieten. Glauben Sie mir«, er war lauter geworden, senkte
aber seine Stimme wieder, als er merkte, dass die Leute am Tresen zu ihm herüberblickten, »ich
habe gute Ideen. Ich kann etwas machen aus dem Stück Land dort.«
Un d die nötige Tatkraft?«, fragte Leslie. »Über
die verfügen Sie auch?«
»Sie bezweifeln das?«
»Ich kenne Sie zu wenig. Aber nach allem, was Sie mir über Ihr bisheriges Leben erzählt haben,
denke ich, dass Tatkraft und Entschlussfreude nicht zu Ihren Stärken zählen. Verstehen Sie, mir
sind Menschen immer ein wenig suspekt, die irgendetwas Großartiges brauchen - in Ihrem Fall ein
weitläufiges Stück Land -, um endlich richtig durchzustarten. Häufig sind das nämlich Menschen,
die sich etwas vormachen. Die immer glauben, es habe bloß an den widrigen Umständen gelegen,
dass sie den großen Coup noch nicht landen konnten. Die echten Erfolgsgeschichten lesen sich
anders. Da fangen die Leute mit nichts an und haben hinterher trotzdem etwas
geschaffen.«
Seine Miene war unbeweglich. Leslie konnte nicht erkennen, ob er sich über ihre deutlichen
Worte ärgerte.
»Sie sind sehr ehrlich«, sagte er schließlich, »aber haben Sie mal überlegt, welche
Alternativen Gwen überhaupt hat? Sie lebt ausschließlich von der Rente ihres Vaters. Sowie Chad
Beckett stirbt - und das kann naturgemäß nicht mehr allzu lange dauern -, steht sie von einem
Tag zum anderen vollkommen mittellos da. Sie hat kein eigenes Einkommen. Und davon, dass zwei-
oder dreimal im Jahr Mr. und Mrs. Brankley Ferien bei ihr machen, wird sie kaum leben
können.«
»Sie könnte die Farm verkaufen.«
»Ihre Heimat? Den einzigen Ort, den sie kennt und an dem sie glücklich ist?«
»Ist sie glücklich?«
»Wäre sie glücklicher ohne Farm? In irgendeiner Etagenwohnung?«
»Sie könnte sich einen Job suchen. Würde endlich unter Menschen kommen. Vielleicht einen Mann
treffen, der sie wirklich liebt.«
»Tja«, machte Dave. Und fügte nach einem Moment des Schweigens hinzu: »Sie werden also
versuchen, ihr die Verbindung mit mir auszureden?«
»Nein!« Leslie schüttelte den Kopf. »Ich werde mich nicht einmischen. Gwen muss das selbst
wissen. Sie ist erwachsen.«
Er schaute sie an.
»Ich habe übrigens nicht mit ihr geschlafen letzte Nacht«, sagte er
unvermittelt. »Ich habe überhaupt noch nie mit ihr geschlafen. « Leslie dachte wieder an die
schwarze Strumpfhose in seinem Zimmer. Geht dich nichts an, ermahnte sie sich. »Nein?«, fragte sie deshalb nur.
»Nein. Sie wollte es. Aber ich ... schaffe es nicht. Ich schaffe es kaum, sie anzufassen,
geschweige denn ... « Er ließ den Satz unbeendet stehen.
»Ja, aber«, fragte Leslie, »wie stellen Sie sich denn dann die Ehe mit ihr vor?« Er antwortete
nicht.
Jennifer hatte einen Zettel mit Dave Tanners genauer Adresse an der Pinnwand in Gwens Zimmer
gefunden, und obwohl sie natürlich wusste, dass es nicht in Ordnung war, das Zimmer ihrer
Gastgeberin in deren Abwesenheit zu betreten, sagte sie sich, dass ihre Sorge ihr Verhalten
rechtfertigte. Es sah Gwen nicht ähnlich, so lang wegzubleiben und niemandem Bescheid zu
geben.
Der Weg zu Fuß bis zur Landstraße schien ihr heute länger zu dauern als sonst, aber das mochte
an der feuchten Luft liegen, die das Atmen schwer machte. Man musste sich an die rote
Telefonzelle stellen, um
Weitere Kostenlose Bücher