Das andere Kind
Wagen?«, erkundigte er sich, obwohl er die Antwort ahnte. Jennifer überlegte
eine Sekunde, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich nehme den Bus. Du weißt ja ... «
»Ich weiß«, erwiderte Colin resigniert. Jennifer war früher eine ganz
unkomplizierte Autofahrerin gewesen. Erst nach der Geschichte hatte sie sich nicht mehr hinter ein Lenkrad gewagt. Worin genau dabei der
Zusammenhang bestand, wusste Colin nicht. Es hatte den Anschein, als traue sie es sich einfach
nicht mehr zu. Und je mehr Zeit verstrich, umso weniger wahrscheinlich wurde es, dass sie es je
wieder tun würde.
Er sah zum Fenster hinaus. Es schien, als werde der Nebel immer dichter. Ein seltsamer Tag. So
stumm. Selbst die Möwen waren nicht zu hören.
Er war unruhig. Wusste nicht, warum. Es mochte am Nebel liegen.
»Meine Wirtin hat mir zum ersten November gekündigt«, sagte Dave.
Sie waren die einzigen Gäste im King Richard III., einem kleinen Coffeeshop am Hafen, der ein
Frühstück anbot. Ein junger Mann gammelte gelangweilt hinter dem Tresen herum, nachdem er ihnen
mit missmutiger Miene Kaffee und Scones gebracht hatte.
»Ist nicht besonders heimelig hier«, hatte Dave gesagt, als sie den Raum betraten, dessen
Fenster hinaus auf die wie ausgestorben daliegende Hafenpromenade gingen und auf die sich
vereinzelt aus dem Nebel schälenden Masten der Segelschiffe. »Aber sie haben Scones mit
Marmelade, und gar nicht mal so schlechte.«
Auch der Kaffee war überraschend gut, fand Leslie. Stark und heiß. Genau das Richtige nach der
kalten und nassen Luft draußen.
»Darf sie das?«, fragte sie nun. »Sie einfach so kurzfristig vor die Tür setzen?«
»Ich denke, ja«, antwortete Dave. »Wir haben keinen Mietvertrag oder so etwas. Ich wohne
schwarz bei ihr und habe nichts Schriftliches in der Hand. Wie sollte ich also klagen? Außerdem
- na ja, es ist nicht so, dass ich mit Leib und Seele an meinem repräsentativen Domizil hänge,
wie Sie sich bestimmt vorstellen können.«
»Was hat sie als Grund angegeben?«
»Sie behauptet, die Tochter einer Freundin von ihr werde in Scarborough studieren und wolle bei
ihr wohnen. Ich würde wetten, dass es diese Freundin überhaupt nicht gibt.
Die Wahrheit ist natürlich, dass sie Angst vor mir hat. Sie fürchtet, dass ich sowohl Amy Mills
als auch Fiona Barnes ermordet habe und dass sie selbst das nächste Opfer sein könnte. Sie
schläft schon nachts nicht mehr daheim, sondern geht jeden Abend zu irgendeiner anderen
Nachbarin. Dort scheint sie dann immer die schaurigsten Geschichten über mich zu verbreiten.
Wenn ich mich auf der Straße blicken lasse, fühle ich mich von ungefähr hundert Augen
durchbohrt, die sich hinter den Fensterscheiben auf mich richten. Aber mir ist das eigentlich
gleichgültig. Sollen sie alle denken, was sie wollen.«
»Da Sie und Gwen im Dezember sowieso heiraten wollen, ist das alles ja eigentlich kein Problem.
Dann ziehen Sie eben schon Anfang November zu ihr auf die Farm.«
»Ja«, sagte er. Er seufzte nicht, aber sein Ja klang wie ein Seufzen.
Leslie legte beide Hände um ihren Becher. Die Wärme bereitete sich prickelnd über ihre Finger
aus, schien dann auch die Arme hinaufzufließen. Ein angenehmes Gefühl, das nicht nur die
feuchte Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben, sondern auch ihre aufgewühlten Emotionen zu
besänftigen vermochte. Sie wusste, dass sie vermutlich zu weit ging, aber etwas an der Art, mit
der Dave Tanner sie ansah, vermittelte ihr den Eindruck, dass er reden wollte, dass er sich
nicht von ihr bedrängt fühlen würde.
»Sie sind nicht gerade verrückt vor Liebe nach Gwen, stimmt's?«, fragte sie leise.
»Man merkt das ziemlich deutlich, oder?« »Ja.«
Er lehnte sich vor. »Ich liebe sie überhaupt nicht, Leslie, das ist das
Problem. Und das liegt keineswegs nur an ihrem wenig ansprechenden Ä ußeren. Eine Frau könnte hässlic h wie die Nacht sein und
mich trotzdem faszinieren, und hässlich ist Gwen nicht einmal. Aber die Faszination - die ist
wahrscheinlich der springende Punkt. Nichts, aber auch gar nichts an ihr fasziniert mich.«
»Die Faszination lässt in den meisten Beziehungen aber ohnehin nach einiger Zeit ziemlich
nach.«
»Aber sie ist die Initialzündung am Anfang. Da muss irgendetwas sein, etwas, das einen am
anderen fesselt, das neugierig macht, das einen nicht mehr loslässt. Sie kennen das doch, oder?
Warum haben Sie Ihren Mann geheiratet?«
Die letzte Frage überraschte sie,
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