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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Frage
    nach dem Danach. Das Leben nach Stephen.
    Was hielt das Leben bereit für eine Frau auf der Schwelle zu ihrem vierten Jahrzehnt,
    geschieden, beruflich erfolgreich, aber privat voller Angst vor einer einsamen Zukunft? Jeden
    Abend allein in eine dunkle Wohnung zurückkehren. Jeden Sonntag allein
    frühstücken.
    Jeden Samstagabend allein vor dem Fernseher, mehr Alkohol konsumierend, als auf die Dauer
    gesund war. Für die nächsten dreißig, vierzig Jahre?
    Plötzlich dachte sie: Natürlich gibt es eine Zukunft! Natürlich wird es wieder eine Beziehung
    für mich geben! Nicht jetzt, kaum dass Fiona tot ist. Nicht mit Dave. Er ist Gwens Verlobter.
    Aber es gibt andere. Und ich werde mich ihnen öffnen können.
    Es war, als hätte Stephens Treuebruch eine Art gläserne Glocke über sie gestülpt, durchsichtig
    zwar, so dass sie die Welt und das Leben hatte sehen können, aber so hermetisch verschlossen,
    dass sie nicht daran hatte teilnehmen, nichts davon an sich hatte heranlassen können. Sie hatte
    ihren Job gemacht, hatte ihren Alltag energisch und kompetent gemeistert und war doch innerlich
    kalt, fern aller Menschen und allein gewesen. Unfähig, Gefühle zu erkennen, die andere an sie
    herantrugen, noch unfähiger, sie anzunehmen.
    Es veränderte sich etwas. Sie stand hier im Regen an der Küste von Scarborough und war fähig,
    einen Mann als anziehend wahrzunehmen. Sie reagierte auf ihn. Sie hatte in seinen Armen
    geweint.
    Noch vor einer Woche hätte sie eine solche Szene für ausgeschlossen gehalten.
    Dr. Leslie Cramer hatte sich an die Brust eines ihr noch ziemlich fremden Mannes geworfen und
    die Kälte und Verlorenheit ihrer Kindheit und Jugend aus sich herausgeschluchzt. Sie war so
    irritiert von sich selbst, dass sie um ein Haar kurz aufgelacht hätte, eher hilflos als
    fröhlich, aber sie verbiss es sich. Lachen passte nicht zu diesem Moment.
    »Ich dachte nur an Teetrinken«, sagte Dave, »an Reden, vielleicht Musik hören. Sonst nichts.«
    Was war schon dabei?
    »Meine Wohnung, genau genommen Fionas Wohnung, ist ungünstig«, sagte Leslie. »Es sei denn, du
    hast Lust, meinen Exmann kennen zu lernen.«
    »Nicht so sehr«, räumte Dave ein.
    „Also zu dir.« Leslie mochte sich nicht vorstellen, was Gwen zu diesem Date in Daves Zimmer
    sagen würde. Sie hatte nicht den Eindruck, mit dem Feuer zu spielen, dafür empfand sie sowohl
    sich als auch Dave Tanner als zu sehr gefangen in einer für jeden von ihnen unklaren und
    bestürzenden Situation, geschockt von dem Verbrechen, das so jäh in ihr Leben getreten war,
    beide ohne eine genaue Vorstellung, wie alles für sie weitergehen konnte.
    Dennoch brauchte Gwen von ihrer Begegnung nichts zu erfahren. Und was dort in seinem Zimmer
    passiert, entschied Leslie, liegt sowieso an mir.
    Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, in einträchtigem Schweigen. Sie waren beide inzwischen so
    durchnässt, dass es schon nicht mehr darauf ankam.
    Die Friargate Road wirkte bei dem schlechten Wetter trist und verlassen. Regenwasser rann die
    Fensterscheiben herunter, plätscherte aus Dachrinnen und versickerte in den winzigen Vorgärten.
    Aus irgendeinem Haus klang plärrende Musik. Vor der Markthalle hatten sich ein paar Jugendliche
    versammelt, die, ihre iPods an den Ohren, Bier tranken, leere Dosen herumkickten und froren.
    Sie riefen Dave und Leslie Obszönitäten hinterher und brachen anschließend in ein Gelächter
    aus, das verriet, wie betrunken sie bereits waren.
    Als sie vor Mrs. Willertons Haus ankamen, stieg ein Mann aus einem Auto, das auf der
    gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Leslie hatte den Wagen zunächst gar nicht bemerkt. Der
    Mann schlug fluchend seinen Mantelkragen hoch und hastete durch den Regen auf sie zu. Sein
    Gesicht kam Leslie irgendwie bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht sogleich einordnen. Er
    blieb direkt vor ihnen stehen und versperrte ihnen den Weg. Hielt ihnen seinen Ausweis unter
    die Nase.
    »Sergeant Reek«, stellte er sich vor. »Mr. Tanner?«
    »Hallo, Sergeant«, sagte Dave freundlich.
    Reek verstaute den Ausweis wieder in der Innentasche seines Mantels.
    »Mr. Tanner, ich muss Sie ersuchen, mich umgehend auf das Revier zu begleiten. Detective
    Inspector Almond hat eine Reihe von Fragen an Sie.«
    »Jetzt?«
    »J a. Jetzt gleich.«
    »Wie Sie sehen, Sergeant, habe ich Besuch, und ... «
    »Jetzt gleich«, wiederholte Reek mit Nachdruck.
    Dave strich sich ein paar nasse Haarsträhnen aus der Stirn. Er wirkte nicht

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