Das andere Kind
es ihm relativ egal, ob irgendjemand außer ihm die Geschichte kennt. Chad
erscheint mir im Moment wie eingesponnen in seiner Trauer um Fiona. Ich glaube nicht, dass er
sich über irgendetwas jenseits davon besonders aufregt.«
»Trotzdem. Ich möchte nicht, dass er es erfährt«, sagte Gwen, »und deshalb kann es auch die
Polizei nicht erfah- ren.« Sie klang bestimmter, als man es von ihr gewohnt war. Colin wusste,
wie sehr sie an ihrem Vater hing. Ein länger anhaltendes Zerwürfnis mit ihm hätte sie schwer
getroffen. Zudem mochte sie seinen Ruf nicht beschmutzen, indem sie seine Vergangenheit der
Polizei und damit vermutlich der Öffentlichkeit zugänglich machte. Letzteres galt auch für die
tote Fiona. Auch deren Andenken hätte sie in Verruf gebracht, und Fiona war lange Jahre wie
eine Mutter für sie gewesen. Es hätte Gwen das Herz gebrochen, die beiden alten Menschen, die
in gewisser Weise ihre eigentliche Familie dargestellt hatten und die sich beide nicht wehren
konnten - Fiona, weil sie nicht mehr lebte, und Chad, weil er in sich selbst eingeschlossen war
-, der öffentlichen Kritik in ihrer ganzen Härte und Gnadenlosigkeit preiszugeben.
»Gwen ... «, sagte Colin behutsam, aber sie unterbrach ihn und sagte in einem für ihre
Verhältnisse erstaunlich scharfen Ton: »Die Polizei müsste zunächst etwas ganz anderes wissen,
Colin. Etwas, das mir viel wichtiger erscheint als alte Geschichten.«
»Was denn?«
»Jennifer«, sagte sie nur.
Er verstand nicht. »Jennifer?«
Gwen sah ihn nicht an. »Ich schlage mich schon die ganze Zeit damit herum. Der Samstagabend,
Colin, weißt du, wir wurden doch alle befragt, was wir zur Tatzeit gemacht haben und wo wir
waren.«
»Ich weiß. Wo ist das Problem?«
Sie schien mit sich zu ringen. Später dachte Colin, dass sie das, was sie
als Nächstes sagte, nie zur Sprache gebracht hätte, hätte sie sich nicht mit dem Rücken an der
Wand gefühlt. Sie musste ihn davon abbringen, weiterhin wegen
der Übergabe von Fionas Geschichte an die Polizei zu insistieren,
und sie tat es auf die einzige ihr zur Verfügung stehende Weise: Sie richtete ihren und seinen
Fokus auf eine andere Person. Dennoch zweifelte er seltsamerweise keinen Moment, dass es
stimmte, was sie sagte.
»Kurz nachdem wir von Fionas Tod erfahren hatten, kam Jennifer zu mir«, berichtete sie. »Sie
meinte, ich könne in Schwierigkeiten geraten, weil ich möglicherweise ein Motiv gehabt hätte,
sie zu töten - immerhin hatte sie praktisch meinen Verlobten vom Hof gejagt. Sie sagte, ich
könne in eine brenzlige Lage kommen.«
»In eine brenzlige Lage ... vor der Polizei?«
»Ja. Und sie hatte ja recht. Es gab an dem Abend tatsächlich nur zwei Menschen, die wirklich
Grund hatten, wütend auf Fiona zu sein: Dave Tanner - und mich.«
»Ja, aber ... «
»Sie bot mir an, mir ein Alibi zu geben.«
»Was?«, fragte Colin entgeistert.
»Sie meinte, ich solle doch sagen, dass ich mit ihr zusammen und den Hunden unten in der Bucht
gewesen sei. Sie werde das bezeugen. Ich war ... so durcheinander und verängstigt, dass ich
einwilligte.«
Er war entsetzt. »Das heißt, in Wahrheit warst du nicht ... ?«
»Nein. Ich war nicht mit ihr in der Bucht. Wir saßen eine ganze Weile zusammen in meinem
Zimmer, und sie tröstete mich, aber dann ... zog sie allein los. Ich blieb zurück. Die ganze
Nacht. Wofür es keinen Zeugen gibt.«
Er schüttelte den Kop£ »Gwen, weißt du, was du da sagst?« »Ich sage es ja
nur dir«, erwiderte Gwen. »Ich würde es niemandem sonst sagen, ab er
... die ganze Zeit muss ich daran denken, dass ... Jennifer ganz
allein zur Tatzeit draußen herumgestreift ist. Mir ist damals schon der Gedanke gekommen, dass
es andersherum sein könnte, verstehst du?«
»Andersherum?«, fragte er schwerfällig. Er war wie vor den Kopf geschlagen.
Wie hatte Jennifer so dumm sein können?
»Dass es ihr vielleicht gar nicht darum ging, mir ein Alibi zu geben. Sondern dass sie selbst eins
brauchte. Ich meine nicht, dass sie ... also, keine Sekunde glaube ich, sie könnte Fiona
umgebracht haben. Warum sollte sie das tun? Aber es ist merkwürdig, Colin, oder? Warum hat sie
die Polizei belogen? Warum ist sie dieses Risiko eingegangen? Warum wollte sie sich unbedingt
absichern?«
Die großen Mehrfamilienhäuser am St. Nicholas Cliff sahen allesamt ein wenig schäbig aus,
einschließlich des Grand Hotel, dessen Fassade besonders unter Wind und Salz in den
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