Das andere Kind
letzten
Jahren gelitten zu haben schien. Das Haus, in dem Stan Gibson wohnte, befand sich an der oberen
Ecke und wirkte sehr abgewohnt. Im Erdgeschoss gab es ein Damenmodengeschäft, das sich, den
Auslagen nach, an Frauen mittleren Alters und eher geringen Einkommens wandte. Die Wohnungen
darüber waren mit kleinen Fenstern ausgestattet, denen man schon von außen ansah, dass sie
schlecht schlossen und nicht allzu viel Helligkeit in die Innenräume ließen.
Alles in allem, dachte Jennifer, nicht unbedingt ein Gebäude, in dem ich wohnen
möchte.
Voller Unbehagen folgte sie Ena durch das düstere Treppenhaus. Steile, knarrende Stiegen. Eine
schreckliche geblümte Tapete an den Wänden. Muffiger Geruch.
»Es wird gleich besser«, sagte Ena, »seine Wohnung ist recht hübsch.«
Jennifer vermochte sich das kaum vorzustellen.
Im dritten Stock blieb Ena vor einer Tür stehen und schloss auf »Er hat sie selbst umgebaut«,
erklärte sie. »Der Vermieter war einverstanden. Und ich finde das Ergebnis nicht schlecht.« Sie
ließ Jennifer eintreten.
Tatsächlich hatte Stan herausgeholt, was herauszuholen war, das musste Jennifer sogleich
zugeben. Sie nahm an, dass die Wohnung früher aus mehreren kleinen und engen Räumen bestanden
hatte, aber Stan hatte etliche Zwischenwände weggenommen und ein einziges großes Zimmer
geschaffen, das durch einige Pfeiler, die stehen geblieben waren und zum Teil durch Holzregale
miteinander verbunden wurden, sehr gemütlich wirkte. Es gab eine offene Küche, ganz in
blitzendem Edelstahl und schwarzem Granit gehalten, und eine großzügige Sofaecke um einen
künstlichen, aber sehr hübsch gemauerten Kamin herum. Die skandinavischen Möbel sahen nicht
teuer, aber sehr hell und freundlich aus. Eine weiß lackierte Tür führte, laut Ena, ins
Schlafzimmer, und dahinter gebe es noch ein Bad.
»Völlig neu gefliest, mit einer tollen Dusche und einem großen Waschtisch und vielen Spiegeln
... «
Wenn schon nicht Stan selbst, dachte Jennifer, so gefallt ihr doch zumindest seine Wohnung.
Besser als nichts.
Sie machte ein paar Schritte durch das Zimmer und blickte durch eines der Fenster hinaus. Da
die Wohnung so hoch oben lag, konnte man von hier aus das Meer sehen. Unterhalb des Hauses
verlief die breite Straße, beide Fahrtrichtungen getrennt durch die Parkstreifen in der Mitte.
Gegenüber ein paar Wohnhäuser, Läden, das Grand Hotel.
Doch zum Wohnen gar nicht so schlecht, revidierte Jennifer in Gedanken ihr erstes Urteil. Sie
zuckte zusammen, als Ena plötzlich neben sie trat. »In dem Haus direkt gegenüber«, sagte sie,
»wohnt Linda Gardner.«
Das Haus hatte etwas von einem langen, dünnen Zahn, dem seitlich ein Stück weggebrochen
schien.
»Wer ist Linda Gardner?«, fragte Jennifer.
»Das ist die Frau, bei der Amy Mills gejobbt
hat. Die Studentin, die ...«
»Oh, ja, ich weiß«, unterbrach Jennifer. »Eine schreckliche Geschichte. Ganz furchtbar.« Und so
ähnlich wie unsere, dachte sie. »Aus dem Haus dort drüben ist sie in jener Julinacht
weggegangen«, sagte Ena, »da vorn über die Brücke und dann in die Esplanade Gardens. Ihr
letzter Weg. Mrs. Gardners Wohnung befindet sich übrigens auf der gleichen Höhe wie die von
Stan.«
Jennifer betrachtete die Fenster. Dunkle Höhlen, gerahmt von gerüschten Gardinen, wie es
schien.
Sie fröstelte plötzlich, aber das mochte an der grauen, verregneten Stimmung draußen liegen.
Sie wandte sich vom Fenster ab. »Sie wollten mir etwas erzählen, Ena. Und zeigen.«
»Ja«, sagte Ena, »eben das wollte ich Ihnen zeigen. Das gegenüberliegende
Haus. Die Wohnung. Und das hier.« Aus einer Ecke zog sie ein dreibeiniges Stativ heran, auf dem
ein schwarzes Fernrohr befestigt war. Sie stellte es vor d as Fenster.
»Von hier hat er sie beobachtet.«
Jennifer begriff nicht gleich. »Wer? Wer hat wen beobachtet?«
»Stan. Er hat Amy Mills beobachtet. An den Abenden, an denen sie drüben war. Man kann durch
dieses Glas perfekt in die Wohnung sehen und alles erkennen. Abends jedenfalls, wenn dort Licht
brennt. Aber es war ja immer Abend, wenn sie da war.«
»Was?«, fragte Jennifer, die zwar verstand, was Ena sagte, jedoch hoffte, dass sie trotzdem
irgendetwas überhaupt nicht verstand. »Was sagen Sie da, Ena?«
»Das ist nicht meine absurde Idee ,Jennifer. Er hat es mir erzählt. Vor ein paar Tagen. Stan
hat mir erzählt, dass er Amy Mills da drüben beobachtet hat, und er hat mir gezeigt, dass
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