Das andere Kind
es gewesen, der es mit einem heißen Kneipenaufriss im
Ehebett getrieben hatte. Sie zerknüllte den Brief und pfefferte ihn in eine Ecke. Bei dem
strömenden Regen draußen fiel ihr die Einsamkeit des großen Gebäudes, in dem ihre Großmutter
gelebt hatte, noch mehr auf als sonst. Für gewöhnlich versöhnte der Blick nach draußen mit
allem Übrigen; entweder durch gleißendes Sonnenlicht auf dem blauen Wasser der Bucht oder durch
gewaltige, wilde Wolkenformationen am Himmel. Die South Bay hatte ihren Reiz bei schönem
Wetter, aber auch bei Wind und Sturm. Nur diese bleierne, verregnete Trostlosigkeit des
heutigen Tages vermochte nichts anderes zu vermitteln als genau dieses Gefühl:
Trostlosigkeit.
Niemand sonst war im Haus zu hören, wie so häufig. Nirgendwo schlugen Türen, öffneten oder
schlossen sich Fenster, rauschte wenigstens die eine oder andere Toilettenspülung. Die meisten
Appartements standen leer, und das würde den Herbst und Winter über so bleiben. Das Haus atmete
Kälte und Leere.
Plötzlich, für einen Moment, dessen Intensität sie fast überwältigte, konnte Leslie die
Einsamkeit, in der ihre Großmutter gelebt hatte, nachempfinden, und dies erfüllte sie mit einem
beinahe körperlichen Schmerz. Es hatte für Fiona in den vergangenen Jahren viele Tage wie
diesen gegeben: grau, kalt und beklemmend still. Sie hatte diese Tage durchgestanden,
irgendwie, und sie hatte nie gejammert. Aber sie hatte gelitten. Leslie wusste das auf einmal,
obwohl sie nicht hätte sagen können, woher diese Gewissheit kam. Vielleicht lag sie einfach
inmitten dieser Wände, so stark noch in ihrer Energie, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu
ignorieren.
Sie ging in die Küche, setzte Teewasser auf. Beunruhigt fragte sie sich, was die Polizei gegen
Dave in der Hand haben mochte. Zweifel an seinen Angaben zum vergangenen
Samstagabend?
Er war es nicht. Er hatte Fiona nicht getötet. Sie hätte das schwören können, aber sie konnte
sich auf nichts anderes stützen als auf ihren Instinkt, und dieser war wenig erprobt, was die
Einschätzung krimineller Energien bei andern Menschen anging, genau genommen gar nicht. Dave
hatte behauptet, er sei nach Hause und ins Bett gegangen. Wenn das nicht stimmte, welchen Grund
mochte es geben, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten?
Sie hängte einen Beutel Ingwertee in einen Becher, gab etwas Honig dazu und
goss das kochende Wasser darüber. Während der Tee zog, blickte sie aus dem Fenster über der
Spüle, das auf den gepflegten kleinen Park hinausging, der die Ecke Esplanade und Prince of
Wales Terrace malerisch abrundete. Eine alte Frau schlurfte, ungeachtet des schlechten Wetters,
den verschlammten Weg entlang. War sie auch einsam? Hielt sie es deshalb in ihrer Wohnung nicht
aus und floh nach draußen, ei ne Grippe oder sogar eine Lun genentzündung riskierend? Es gab Menschen, die die Einsamkeit als die
schlimmste Krankheit von allen bezeichneten, schlimmer sogar als den Tod. Hatte Fiona auch zu
ihnen gehört? Leslie wandte sich vom Fenster ab. Ihr Blick fiel auf eine kleine Metalltafel,
die neben dem Kühlschrank hing; mit Hilfe von Magneten konnte man Zettel daran befestigen. Eine
Einkaufsliste hing dort, geschrieben in Fionas vertrauter, steiler Handschrift, in der noch
keine Zittrigkeit zu erkennen gewesen war. Zucker hatte sie notiert, grüner Salat und Weintrauben.
Daneben hing eine Postkarte, die Leslie als die erkannte, die sie selbst im
Jahr zuvor ihrer Großmutter aus den Ferien geschickt hatte, als sie mit zwei Kollegen einen
Wanderurlaub in Griechenland gemacht hatte. Eine sonnige Bucht war darauf zu sehen,
felsenumsäumt, mit einem fast kitschig-blauen Himmel darüber. Daneben hing ... Leslie trat
näher. Ein Programmzettel, der zur Weihnachtsparty unten im Spa Complex einlud. Christmas Eve
mit einem Bauchredner und einer grellbunten Puppe. Leslie drehte den Zettel, dessen Vorderseite
ein geschmückter Tannenbaum zierte, um. Die Hey Presto
Dancers und Naughty Oscar, der seine ganz speziellen Tricks zeigen wollte. Ein Spaß für die ganze
Familie, warb das Blatt, um den aufregendsten und magischsten Abend des Jahres zu
verbringen.
Das Programm stammte vom vergangenen Jahr.
Warum hing es noch hier? War Fiona dorthin gegangen? Leslie wusste, dass
nichts an diesem Angebot sie gereizt oder amüsiert haben konnte. Alberner Klamauk, nett
vielleicht für Kinder, die kaum wussten, wie sie die Zeit bis zum nächsten
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