Das andere Kind
»Glauben Sie, dass er
...?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie weit er in das Verbrechen an Amy Mills verstrickt ist,
und ich weiß nicht, wie gefährlich er uns werden könnte, aber zumindest Letzteres will ich auch
gar nicht wissen. Kommen Sie. Wir müssen verschwinden.«
»Und dann?« »Ich nehme diese Fotos hier mit. Und damit gehen wir zur Polizei. Sie müssen dort
alles sagen, was Sie mir gesagt haben, Ena. Die Polizei muss das
wissen.«
Von Ena schien mit einem Schlag alle Energie, die sie durch die letzte halbe Stunde getragen
hatte, abzufallen. Ihre Arme hingen plötzlich schlaff herab.
»Und was wird dann aus mir? Er wird danach nicht mehr mit mir zusammen sein wollen.«
»Wollen Sie denn mit jemandem zusammen sein, der ... « »Was?«
»Der vielleicht ein schlimmes Verbrechen begangen hat?«
»Und wenn er es nicht war?«
Jennifer wedelte mit den Bildern. »Das hier allein ist schon nicht normal!
Das Fernrohr ist nicht normal! Der Mann hat eine Störung, so oder so. Außerdem sind Sie ohnehin
nicht glücklich mi t ihm, wie Sie mir vorhin lang und breit erzählt haben. Bitte, Ena, nun machen Sie schon! Wir
sollten uns hier jetzt nicht mehr so lang aufhalten!«
Endlich kam wieder Bewegung in Ena. Sie bückte sich, schob die Schublade zu. »Ja. Gut. Ich will
nur noch ein paar Sachen einpacken. Ich habe schon einige persönliche Dinge hier, und ich weiß
ja nicht, ob ich jemals wieder ... « Ihre Stimme zitterte.
»Beeilen Sie sich«, drängte Jennifer.
Sie trat wieder an das Fenster, während Ena hinter ihr in der Wohnung hin und her huschte.
Regen. Regen. Regen. Und gegenüber die dunklen Fenster der Wohnung, in der Amy Mills ihre
Mittwochabende verbracht hatte. Dunkle Fenster, die hell erleuchtet jede Menge Einblicke
gewährten.
Stan Gibson - ein Spanner? Ein Stalker?
Oder ein Mörder?
Regen.
Sie wusste plötzlich, weshalb sie so unruhig war. Weshalb sie ständig zur Wohnungstür
hinblickte. Weshalb ihr Herz so laut und so schnell schlug.
Es regnete in Strömen. Auf keiner Baustelle konnte bei solch einem Regen gearbeitet werden. Und
es sah nicht so aus, als werde es bald aufhören.
Sie wandte sich zu Ena um, die gerade zwei gerahmte Bilder vom Kamin nahm und in einer
Plastiktüte verschwinden ließ.
»Ena! Jede Wette, dass er heute früher heimkommt. Sind Sie fertig?
Wir müssen hier weg!« »Gleich«, sagte
Ena.
Jennifer blickte wieder hinaus, überprüfte die Straße. Ihre Stimme vibrierte. »Nun machen Sie
schon!«
Stephen war nicht in der Wohnung, als Leslie zurückkam. Im ersten Moment dachte sie, er sei
vielleicht spazieren gegangen oder bummle durch die Stadt, um sich irgendwie zu beschäftigen,
aber dann spähte sie durch die angelehnte Tür ins Gästezimmer und sah, dass die Reisetasche
fehlte, die die ganze Zeit auf einem Stuhl vor dem Fenster gestanden hatte.
Sie trat ein. Das Bett war sorgfältig gemacht, die Türen des Kleiderschranks standen offen und
zeigten, dass sein Inneres leer geräumt worden war. Keine Frage: Der Bewohner des Zimmers war
abgereist.
Auf dem Nachttisch entdeckte Leslie ein Stück Papier mit Stephens kleiner, kritzeliger
Handschrift:
Liebe Leslie, ich habe das Gefühl, dass ich dir lästig bin. Tut mir leid,
wenn du meinen Besuch als Überfall empfunden hast. Ich möchte nicht, dass du dich durch meine
Nähe noch unwohler fühlst, als es wegen Fionas Tod ohnehin der Fall ist - das war bestimmt nicht meine Absicht! Im Gegenteil, ich
wollte dir helfen und für dich da sein, falls du einen vertrauten Menschen brauchst; und das,
denke ich, bin ich trotz allem noch immer für dich: ein vertrauter Mensch.
Das Angebot - für dich da zu sein, dir für jede Art von Gespräch zur
Verfügung zu stehen - erhalte ich
aufrecht. Aber ich denke, ein wenig Abstand tut uns gut. Ich habe ein Zimmer im Crown Spa Hotel
genommen, du weißt, nur ein Stück die Straße hinunter. Ich bleibe dort noch ein paar Tage, werde dich aber nicht behelligen.
Wenn du mich brauchst, komm einfach rüber.
Ich würde mich freuen. Stephen.
Typisch Stephen. Rücksichtsvoll, zuvorkommend. Eigene Belange zurückstellend, aber damit
zugleich auf eine subtile Art Schuldgefühle erzeugend. In seiner Gegenwart kam man sich immer
als der schlechtere Mensch vor. Leslie ging plötzlich auf, dass das sogar nach seinem
Seitensprung so gewesen war: Als sie schließlich die Beziehung beendet hatte, hatte sie sich
wie ein Schuft gefühlt, dabei war er
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