Das andere Kind
Morgen und zum
Auspacken der Geschenke herumbringen sollten. Aber eine alte Dame, belesen und kri t isch und schon über jede Comedy-Sendung im
Fernsehen nörgelnd?
Sie war einsam gewesen, sie hatte nicht gewusst, wie sie den Weihnachtsabend hatte überstehen
sollen. Das war die einzige Erklärung. Weihnachten, die große, problematische Klippe im Jahr,
die alleinstehende Menschen meist kaum zu umschiffen wussten. Eine Klippe, die so schwarz,
schroff und beängstigend wirken mochte, dass man lieber in die albernste Unterhaltung floh, als
allein in den eigenen vier Wänden zu sitzen. Warum hat sie mir nichts davon gesagt?, dachte
Leslie. Sie erinnerte sich an dieses letzte Weihnachtsfest. Es war nicht so, dass Weihnachten
für sie kein Problem dargestellt hätte. Um dem vorhersehbaren Katzenjammer zu entgehen, hatte
sie sich für den Weihnachtstag freiwillig als Notdienst im Krankenhaus einteilen lassen. Den
Vorabend hatte sie mit zwei sehr viel älteren Kolleginnen, von denen die eine verwitwet, die
andere ledig war, in einem Pub gefeiert. Alles in allem war sie recht gut über die schwierigen
Tage gekommen. Voll Schuldbewusstsein fragte sie sich jetzt, weshalb sie keinen Moment an ihre
Großmutter gedacht hatte. Was hätte näher gelegen, als für eine Woche hinauf nach Yorkshire zu
fahren und mit ihr gemeinsam das Fest zu begehen?
Weil sie ein so verdammt harter, eiserner Knochen war, dachte sie, deshalb kam man gar nicht
auf die Idee, ein Ereignis wie Weihnachten könnte ihr im Magen liegen. Man dachte ja gar nicht,
dass überhaupt irgendetwas für sie problematisch oder beängstigend oder niederschmetternd sein
konnte. Vielleicht hatte sie Gefühle wie Trauer und Kummer und Furcht verspürt, aber warum
hatte sie nie auch nur die kleinste Regung davon gezeigt?
Offenbar hatte es auch keine Verabredung auf der Beckett- Farm gegeben. Schließlich hätte sie
zu Chad und Gwen gehen können. Aber Chad in seiner wortkargen, verschrobenen Art war vermutlich
gar nicht darauf gekommen, eine Einladung auszusprechen, Gwen traf ohnehin kaum je eine
Entscheidung allein, und Fiona war mit Sicherheit zu stolz gewesen, von sich aus zu
fragen.
Und hatte vielleicht bis zum letzten Moment gehofft, ihre Enkelin werde sich bei ihr
melden?
Das Telefon klingelte und riss Leslie aus ihren schuldbeladenen Grübeleien. Sie nahm den Hörer
ab und dachte im selben Moment: Hoffentlich nicht wieder ein anonymer Anruf!
»Ja?«, sagte sie.
Es war Colin. Diesmal fahndete er nach Jennifer, und es war ihm hörbar unangenehm, dass er sich
mit einer Vermisstenmeldung schon wieder ausgerechnet an Leslie wenden musste.
»Sie wollte einkaufen und vielleicht irgendwo zu Mittag essen. Ich weiß, dass um ein Uhr der
letzte Bus ging und der nächste erst wieder nach vier Uhr, aber ... «
»Wo ist dann das Problem?«, fragte Leslie. »Es ist halb drei. Sie können vermutlich erst in
mehr als zwei Stunden mit ihr rechnen.«
»Das Wetter«, sagte Colin, »ist mein Problem. Großen Spaß dürfte sie bei dem Regen in der Stadt
nicht haben, und da dachte ich, ich könnte sie abholen, wenn ich nur wüsste, wo sie steckt.
Aber ... zu Ihnen ist sie offenbar nicht gegangen?«
»Nein«, bestätigte Leslie, »bei mir ist sie nicht. Und übrigens, Colin, wie ich erfahren habe,
war Gwen, nach der Sie gestern so verzweifelt herumtelefonierten, die Nacht über bei Dave
Tanner. Was ich mir ja schon gedacht hatte.«
»Gwen ist inzwischen daheim«, sagte Colin, »und sicher habe ich mir, was sie betrifft, zu viele
Sorgen gemacht. Aber meine Frau wollte unter Umständen ebenfalls Dave Tanner aufsuchen, was
mich ... nun, auch ein wenig beunruhigt.«
»Was beunruhigt Sie daran?«
»Das können Sie sich doch denken«, gab Colin zurück. Spielte er darauf an, dass der
Verdacht gegen Dave, etwas mit dem Mord an Fiona zu tun zu haben, noch immer nicht ausgeräumt
war?
Laut sagte Leslie: »Ich habe Dave heute früh am Hafen getroffen und war bis vor einer
Dreiviertelstunde mit ihm zusammen in der Stadt. Wenn Jennifer ihn daheim sprechen wollte,
dürfte sie kaum Erfolg gehabt haben.«
»Hm«, machte Colin. Es war nicht erkennbar, ob ihn diese Auskunft beruhigte oder
nicht.
Leslie seufzte leise.»Colin, Sie haben irgendwie ein Problem, wenn die Frauen in Ihrer Umgebung
nicht«
»Ich habe überhaupt kein Problem«, sagte Colin scharf, »aber meine Frau hat einige Probleme,
und daher mache ich mir Sorgen.«
»Es wird schon nichts
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