Das andere Kind
sie betrogen und ihr damit den Boden unter
den Füßen weggezogen hatte?
»Ich
wollte ja gar nicht, dass er hierher kommt. Wie sollte es mich dann erschüttern, wenn er wieder
geht?«
Das
Schwindelgefühl ließ nach. Langsam tappte sie in die Küche, ließ sich auf den Stuhl fallen, zog
ihren Tee heran. Er duftete nach Vanille und Honig. Beruhigend und vertraut.
»Wieso
hat dich deine Wirtin jetzt vor die Tür gesetzt?«, fragte sie Dave, der ihr nachgekommen
war.
Er nahm
ihr gegenüber wieder Platz. »Sie hält mich für einen Doppelmörder. Die Tatsache, dass mich
gestern Mittag die Polizei schon erwartete, als ich nach Hause kam, hat sie endgültig in ihrer
Ansicht bestätigt. Sie wollte mich keine Minute länger unter ihrem Dach haben. Der Umstand,
dass man mich wohl kaum wieder hätte laufen lassen, hätte man etwas gegen mich in der Hand
gehabt, konnte sie auch nicht überzeugen. Letztlich verstehe ich sie sogar
irgendwie.«
»Was
wollten sie denn auf der Wache von dir?«
Er
machte eine abwinkende Handbewegung. »Es gab Ungereimtheiten wegen meines Aufenthalts in der
vergangenen Samstagnacht. Ich habe das geklärt. Ich würde hier sonst nicht sitzen.«
Sie war
überzeugt. Natürlich war mit ihm alles in Ordnung. Die Polizei ließ Mörder nicht frei
herumlaufen - zumindest nicht dann, wenn sie sie bereits in Gewahrsam gehabt hatte.
Er
neigte sich vor. Noch einmal fragte er: »Was ist los, Leslie? Was ist passiert? Du siehst
entsetzlich mitgenommen aus. Womit quälst du dich herum?«
Sein
Gesichtsausdruck war besorgt. Vertrauenserweckend. Ein Freund, der sich Gedanken machte. Für
einen Moment sah sich Leslie versucht, ihm alles zu erzählen, vom Krieg, von Brian Somerville,
von Fiona und Chad und all dem Verhängnis, das sie angerichtet hatten, aber dann entschied sie
sich dagegen. Das Gefühl, Fiona schützen zu müssen, war ausgeprägter als ihr Wunsch, sich
jemandem anzuvertrauen. Daher sagte sie nur: »Ich glaube, ich quäle mich mit mir selbst herum.
Mit meinem Leben. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich in Zukunft gehen soll. Es ist so viel
passiert.« »Wirst du diese Wohnung hier behalten? Sie gehört ja nun wahrscheinlich
dir.«
»Ich
glaube nicht, dass ich sie behalte. Ich habe mich hier nie wohlgefühlt. Dieses kalte, riesige
Haus, das immer halb leer ist ... Ich denke, ich werde sie verkaufen. Was ich mit dem Geld
mache ... keine Ahnung. Vielleicht kaufe ich mir eine kleine Eigentumswohnung in London. Richte
mir ein Nest ein, das mir allein gehört. Vielleicht ... finde ich dann das Gefühl, ein Zuhause
zu haben. Einen Hafen, in den ich mich zurückziehen kann.«
»Den
hattest du bislang nicht?«
»Wo
sollte ich ihn haben? Ich bin fast vierzig. Meine Ehe ist gescheitert. Meine letzte lebende
Verwandte ist tot. Ich bin ganz erfolgreich in meinem Beruf, aber das wärmt nicht.«
»Eine
kleine Eigentumswohnung in London«, wiederholte er, »das klingt so ... einsam. So gar nicht
nach einem Mann, Kindern, einem großen Hund - was weiß ich. Nach etwas, das Wärme
gibt.«
Sie
lachte, es klang gekünstelt und, wie sie entsetzt merkte, ziemlich verzweifelt. »Nein, danach
klingt es nicht. Aber denkst du, ich müsste nur mit dem Finger schnippen, und schon ist der
Mann da, der zu mir passt, der mich heiratet, mit dem ich drei wohlgeratene Kinder habe und der
am Wochenende mit uns allen und dem großen Hund aufs Land zum Spazierengehen fährt? Diese Typen
liegen nicht direkt auf der Straße. Ich jedenfalls bin noch nie über einen von ihnen
gestolpert. Eigentlich ... bin ich in der gleichen verdammten Situation wie Gwen. Allein und
hoffnungslos.«
»Aber
du bist nicht Gwen. Du bist erfolgreich, tatkräftig und zielstrebig. Im Unterschied zu Gwen
weißt du recht gut, wie das Leben funktioniert. Du hast nur eins mit ihr gemeinsam: Ihr hängt
zu sehr am Vergangenen. Und merkt vielleicht nicht, wie sehr euch das blockiert.«
»Ich
denke nicht, dass ich ... «
Er
unterbrach sie. »Schau dir Gwen an. Sie sitzt auf ihrer Farm und hält an einer Zeit fest, die
es längst nicht mehr gibt. Eine Zeit, in der Frauen keinen Beruf erlernen. In der sie bei den
Eltern bleiben, bis sie alt und grau sind. Es sei denn, ein Mann taucht auf und holt sie in
sein Haus. Den vergöttern sie dann und ordnen sich ihm unter. Warum, glaubst du, klappt es bei
ihr nie? Weil Männer eine solche Frau heutzutage nicht mehr wollen. Weil man eine Partnerin
möchte. Eine
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