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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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klarer und durchschaubarer. Ein begabter Student, ein Idealist, Weltverbesserer,
    Revoluzzer, einer, der sein Leben in den Sand setzte, dessen gesamtes Hab und Gut zum Zeitpunkt
    seiner Lebensmitte in einen einzigen Koffer passte. Auf einmal erschien er ihr wie der
    personifizierte Gegenentwurf zu einem Mann wie Stephen, der sein Studium durchgezogen und
    seinen Facharzt gemacht hat, der gutes Geld verdiente und eine sichere Stelle hatte, der
    Ansehen genoss und als der perfekte Partner erschien, und der dann hinging und seinen über
    Jahre kontrollierten Frust in einer läppischen Affäre entlud. Sie begriff jetzt, warum es mit
    Stephen nie funktioniert hätte, so oder so nicht: Er war ihr eine Nummer zu klein. Zu bieder.
    Zu berechenbar selbst dort, wo er das Unfassbare tat: Sie belog und betrog. Auch dabei blieb er
    der Streber von nebenan, dem nach einer Nacht schon die Luft ausging, der dann das Geständnis
    brauchte, weil er, obwohl alles hinter ihm lag, mit seiner atemberaubenden Tat nicht zurechtkam
    oder vielleicht nicht mit dem Umstand, nicht erwischt worden zu sein.
    Er war ein Stück ihres Lebenswegs
    gewesen, ein Abschnitt. Mehr nicht. Daves Hände glitten unter ihren Pullover, und sie schloss
    die Augen, als sich seine Finger um ihre Brüste legten.
    »Wir sollten das nicht tun«, murmelte
    sie und fragte sich gleichzeitig, ob sie das wirklich meinte, oder ob sie ihr Gewissen damit
    beruhigen wollte, dass sie wenigstens ein paar Augenblicke lang Widerstand leistete.
    »Warum nicht?«, fragte Dave
    leise.
    Es wäre so einfach in diesem Moment,
    und sie empfand ein so großes Verlangen, ihrer Sehnsucht nach Wärme, nach Schutz, nach
    Geborgenheit nachzugeben. Sich in die körperliche Verschmelzung mit einem Mann zu flüchten, um
    alles zu vergessen, was sie bedrängte und bedrückte.
    Sich anzulehnen. Darum ging es viel
    mehr als um Sex. Es ging darum, eine Heimat zu finden. Darum ging es seit Jahren. Vielleicht
    schon immer, ihr ganzes bisheriges Leben lang.
    Es blieb fraglich, ob sie diese Heimat
    finden würde, wenn sie es in dieser Situation mit einem Mann, der zweifellos eine starke
    sexuelle Wirkung auf sie ausübte, auf dem Küchenfußboden oder sonst wo trieb aus einem Moment
    größter körperlicher Schwäche heraus, hungrig und von Übelkeit gequält und in einem Zustand
    psychischer Instabilität, weil sie Dinge über Fiona erfahren hatte, die sie
    erschütterten.
    Das Gefühl, als löse sich ihr Körper in
    Lust auf, veränderte sich. Ihr Verstand übernahm die Führung. Sie versuchte, einen Schritt
    zurückzuweichen, stieß aber sofort an die Wand. »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Warum
    nicht?«, wiederholte er. Seine Zunge berührte ihre Lippen. Sie mochte seine Art zu küssen, sie
    mochte das Gefühl, das seine Hände auf ihrem Körper auslösten. Dennoch hatte sie Angst. Angst,
    dass die Leere hinterher umso größer sein würde.
    Sie drehte das Gesicht zur
    Seite.
    »Ich will es wirklich nicht, Dave«,
    sagte sie mit plötzlicher Schärfe in der Stimme.
    Er trat zurück, hob beide Hände.
    »Entschuldige!« »Schon gut.
    Es ist okay.«
    Er wirkte irritiert. »Leslie, ich
    dachte eigentlich, dass du ... «
    »Dass ich was?«
    »Dass wir«, korrigierte er sich, »vor einer Minute
    noch das Gleiche wollten.« »Ja. Vor einer Minute. Aber jetzt ... geht es eben nicht.« Er sah
    sie nachdenklich an. »Wo ist das Problem, Leslie? Oder - wer ist das Problem? Gwen?« »Ja. Auch
    Gwen. Aber auch die Tatsache, dass ich ... ich fühle mich gerade sehr verletzbar. Ich möchte
    nicht mit einem Mann schlafen, den ich kaum kenne, wenn ich so verletzbar
    bin.«
    Er musterte sie sehr
    eindringlich, und sie erkannte Verständnis in seinen Augen. »Irgendwann«, sagte er, »musst du
    aus deinem Schneckenhaus herauskommen. Du hast solche Angst, dass man dir wehtut, dass du es
    kaum noch wagst, überhaupt zu leben. Das ist ... von einem bestimmten Zeitpunkt an eine Spirale
    nach unten, Leslie. Steig aus, ehe du aus eigener Kraft nicht mehr nach oben kommst.« »Keine
    Sorge. Ich habe mich und mein Leben im Griff.« Er erwiderte nichts, und das machte sie
    plötzlich ärgerlich. Sie fand, dass er nicht das Recht hatte, sie und ihr Leben in dieser Art
    zu analysieren - nicht aus seiner Position heraus: argwöhnisch von der Polizei beäugt, von
    seiner Wirtin auf die Straße gesetzt, ein vermutlich ziemlich leeres Konto auf der Bank, eine
    Verlobung, die ohne Wert war ... Was wollte ausgerechnet er ihr

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