Das andere Kind
entweder
direkt zur Polizei ginge oder sich einer Freundin anvertraute, die ihr diesen Schritt
abnahm.
Er hatte seinen Auftritt geplant, und er hatte ihn bekommen.
Und noch etwas wurde Valerie klar: Er hatte dafür gesorgt, dass sie ihm nichts nachweisen
konnten. Er war nicht überrascht worden vom Gang der Ermittlungen, und so hatte er vorher die
Dinge genau bedacht und geordnet. Er hätte all die Indizien, die auf ihn hinwiesen, nicht über
Ena der Polizei zugespielt, wenn es an irgendeiner Stelle eine Gefahr für ihn gäbe. Er war
schlau und rational. Valerie könnte die ganze Welt umstülpen, sie würde den Beweis, der Gibson
hinter Gitter brachte, nicht finden.
Es gab ihn nicht. Gäbe es ihn, so hätte sich Gibson nicht ausgeliefert. Dann hätte er auf die
Grinsnummer im Revier verzichtet.
Sie schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, trank sie schnell, so als könne sie ihre
Verbitterung und ihre Frustration damit hinunterschlucken, ehe beide zu groß wurden.
Dennoch konnte sie eine Hoffnung spüren, zumindest einen Funken davon, eine
makabre, fast zynische Hoffnung, die ihren Ursprung in der Lust hatte, die sie gestern während
des Gesprächs mit Gibson hatte fühlen können. Er genoss die Situation ungeheuer, sie war der
ultimative Kick für ihn, sie erfüllte ihn mit Euphorie, und er war bereits süchtig danach.
Angefixt. Das hatte sie gestern
mit ihm gemacht, und damit hatte sie
einen kleinen Vorsprung erzielt, von dem er noch nichts wusste. Zudem hatte sie zwei
Erkenntnisse gewonnen, unschätzbar wichtige Erkenntnisse: Er war wirklich krank. Und zum
anderen: Er würde es wiederholen wollen. Beides. Die Tat selbst, aber auch das Katz- und
Mausspiel mit der Polizei hinterher.
Das wusste sie so sicher, dass sie jeden Eid darauf leisten würde.
Sie schüttete den Rest ihres Kaffees in den Ausguss. Es half nichts, sie musste den Tag in
Angriff nehmen. Dave Tanners Angaben mussten überprüft werden, und sie hoffte, dass es Reek
gelang, Karen Ward möglichst bald aufzutreiben. Sie würde auch noch einmal mit Ena Witty
sprechen, die sich hoffentlich inzwischen gefasst hatte und sich vielleicht an das eine oder
andere wichtige Detail aus der kurzen Zeit ihrer Beziehung mit Stan Gibson erinnerte. Nicht
dass sie ihn damit würde zu Fall bringen können, da gab sich Valerie kaum einer Illusion hin.
Aber sie musste ihre Arbeit machen. Routiniert und so, wie sie es gelernt hatte. Und überdies
galt es, Gibson näher zu kommen. Alles über ihn zu erfahren, was es zu erfahren gab.
Du hast von jetzt an einen Bluthund auf den Fersen, Gibson, dachte sie grimmig, und irgendwann
werde ich es erleben, wie dir dein Lächeln im Gesicht gefriert und du erkennst, dass du richtig
tief in der Scheiße steckst!
Sie nahm Handtasche und Autoschlüssel, hängte sich ihren Mantel über den Arm und verließ die
Wohnung.
Lieber Chad,
die letzten Kapitel unserer Geschichte schreibe
ich als Brief an dich. Denn das Wesentliche ist erzählt, und was bleibt, ist mein Bedürfnis,
dir zu erklären, weshalb ich dir unsere Geschichte überhaupt aufgeschrieben habe.
Ich kenne dich als wortkargen Pragmatiker, für
den nur das von Wert ist, was unbedingt und ohne Interpretation von unmittelbarem Nutzen ist.
Und ich weiß, was du denkst, nachdem du all das über uns gelesen hast:
Überflüssiges Geschreibsel! Unsere Geschichte -
na und? Als ob ich sie nicht genau kennen würde!
Wozu das alles?
Mich hat unsere Geschichte immer sehr traurig
gemacht, Chad. Aus vielerlei Gründen. Vor allem natürlich wegen Brian Somerville. Vielleicht
bin ich dem kleinen Jungen näher gewesen als du, obwohl er jahrelang in deinem Haus gelebt hat,
auch als ich gar nicht da war, und du im Grunde viel mehr Zeit mit ihm verbracht
hast.
Aber ich war es, an deren Hand er London als
kleiner, ver-waister Junge verließ. Ich war es, deren Nähe er die ganze Zeit über in
Scarborough immer wieder suchte. Ich war es als Einzige, die er beim Namen nannte. Niemanden
außer mir hat er je direkt angesprochen, ist dir das schon einmal aufgefallen? Nicht einmal
Emma, die ihn mehr geliebt hat, als es sonst jemand tat. Die ihn als Einzige geliebt hat im
Grunde. Aber er hatte mich erwählt, vom ersten Moment an, an einem Novembermorgen im zerbombten
London, vor den noch rauchenden Trümmern seines zerstörten Elternhauses. Und obwohl ich seine
Zuneigung nie erwiderte, sein Vertrauen stets enttäuschte, blieb er mir treu. Manchmal
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