Das andere Kind
Valerie, was genau sie eigentlich in
den Händen hielt.
Nichts,
wenn sie ganz ehrlich war.
Nichts, bis auf die Indizien, die sie überhaupt erst auf Gibsons Spur geführt hatten, bis auf
ihre Intuition, die laut Mörder schrie -
und bis auf eine vage Hoffnung. Eine Hoffnung, die sich aus dem Eindruck nährte, den sie von
Gibson hatte.
Der Kaffee war durchgelaufen. Sie trank ihn in kleinen Schlucken, blickte dabei zum Fenster
hinaus. Es war noch dunkel, aber sie meinte z u erkennen, dass es
nicht mehr regnete. Auch der Nebel schien nicht zurückgekehrt zu
sein.
Gibson mochte sich der ganzen Welt gegenüber als der nette, freundliche, lächelnde junge Mann
präsentieren, der auf den ersten Blick den Traum jeder Schwiegermutter verkörperte, sie,
Valerie, konnte er keinen Moment lang täuschen. Sie hatte das Krankhafte in seinem Grinsen
gesehen, den Wahnsinn in seinen Augen. Sie wusste, dass er ein massives Problem hatte, und auch
wenn sie ihn nicht gut genug kannte und nichts Näheres über seine Vorgeschichte wusste, war ihr
klar, dass Frauen, seine Beziehung zu Frauen, den Katalysator darstellten, der aus seinem
Problem ein Horrorszenario machen konnte. Eines, in dem es am Ende um Hass, Vergeltung,
mörderische Wut und ungezügelte Brutalität ging. Die Leiche von Amy Mills hatte überdeutlich
davon berichtet.
Nach ihrer Einschätzung war das Problem die Ablehnung. Gibson war in der Vernehmung auf seiner
Behauptung herumgeritten, noch nie von einer Frau zurückgewiesen worden zu sein. Er hatte das
zu häufig betont, und sie hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen. Sie vermutete, dass hier
der Grund lag, weshalb Amy Mills hatte sterben müssen, und weshalb ihr Tod von so heftiger
Gewalt begleitet gewesen war. Gibson hatte sich förmlich in sie verbissen, das zeigten die
vielen Fotos, die er von ihr gemacht hatte, aber sie hatte ihn nicht gewollt. Zu irgendeinem
Zeitpunkt, entweder in den Tagen vor ihrer Ermordung oder spätestens in jener Nacht im Park
hatte sie ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht. Valerie war überzeugt, dass Gibson mit
Zurückweisung durch Frauen nicht umgehen konnte.
Sie wusste, was Sergeant Reek jetzt sagen würde. »Fakten, Inspector, Fakten! Steigern Sie sich
nicht in etwas hinein, nur weil Sie unbedingt einen Täter haben möchten. Weil Sie unbedingt
eine Lösung des Falls präsentieren wollen. Bleiben Sie bei den Fakten!«
Oder war es gar nicht das, was Reek sagen würde? War es ihre eigene Stimme, die ihr das
riet?
In der vergangenen Nacht war sie manchmal aufgewacht, und dann hatte sie überlegt, weshalb es
plötzlich so glatt gegangen war. Monatelang keine Spur, kein Anhaltspunkt, nichts. Und nun
plötzlich eine Ena Witty, die von einem Moment zum anderen aufkreuzte und angstschlotternd von
ein paar merkwürdigen Begebenheiten um ihren Freund berichtete. Und schon gab es einen
Verdächtigen, gab es Fotos, die von einer besessenen Hinwendung zu der ermordeten Frau zeugten,
gab es ein Fernrohr, das in die Wohnung zielte, von der aus Amy Mills zu ihrem letzten Weg
aufgebrochen war.
In der Stille und Dunkelheit der Nacht hatte sie sich gefragt, ob das alles nicht zu sehr nach
einem Silbertablett aussah, auf dem sie ihren Verdächtigen serviert bekam. N ach einem Täter,
der plötzlich wie ein Ass aus dem Ärmel gezogen wurde, und dass es deshalb einfach nicht sein
konnte: Weil ihr Amy Mills' mutmaßlicher Mörder förmlich vor die Füße fiel, und weil das Leben
oder - um es eine Nummer kleiner zu machen - weil ihr Beruf derartige Lösungen für gewöhnlich
nicht anbot.
Jetzt aber, in diesen frühen Morgenstunden, wusste sie es. Sie kannte die
Antwort auf all die Fragen, die sie sich so skeptisch gestellt hatte: Der Täter stand deshalb
so unvermittelt und urplötzlich vor ihr, weil er selbst das so gewollt hatte. Jetzt, genau zu
diesem Zeitpunkt. Stan Gibson hatte seinen Auftritt gewollt. Die Polizei in seiner Wohnung. Die
Vernehmung. Die Fragen, die er sich im Vorfeld hatte ausrechnen können. Sein Dauerlächeln, von dem er wusste, dass es die Nerven eines
ermittelnden Beamten bis zur Unerträglichkeit malträtierte. Er hatte es gewollt, und deshalb
hatte er Ena von dem Fernrohr erzählt. Hatte die Fotos so platziert, dass sie irgendwann beim
Herumstöbern geradezu darüber stolpern musste. Es war ihm klar gewesen, dass bei Ena von diesem
Moment an alle Alarmglocken schrillen würden. Eine Frage der Zeit nur noch, bis sie
Weitere Kostenlose Bücher