Das andere Kind
Semira, »um mit mir über das Böse in der Welt
zu sprechen. Es hat mit meiner speziellen Geschichte zu tun, dass ich mich über die Jahre
hinweg so viel und so oft damit beschäftigt habe. Es hat mit Gordon McBright zu tun. Und mit
Brian Somerville.«
»Und mit meiner Großmutter?«, fragte Leslie.
Semira lachte. »Ach, Sie möchten wissen, ob ich Ihre Großmutter umgebracht habe am vergangenen
Wochenende? Sie möchten wissen, ob ich ein Motiv habe? Ja, Dr. Cramer, ich hatte eines. Aber
ich muss Sie enttäuschen. Hätte ich Fiona Barnes töten wollen, ich hätte es nicht erst vor ein
paar Tagen getan. Am Ende eines schönen Lebens und um ihr die Beschwerlichkeiten, die Mühsal
und die Einsamkeit des Alters zu ersparen? Warum hätte ich so nett sein sollen? Und außerdem:
Schauen Sie mich an. Ich habe gelesen, Ihre Großmutter ist erschlagen und dann in eine Art
Schlucht am Rand einer Schafweide geworfen worden. Mitten in der Nacht. Halten Sie es für
möglich, dass ich eine solche Tat bewerkstelligen kann? Mit diesem Wrack von einem Körper, in
den ich eingesperrt bin?«
Leslie schüttelte den Kop£ »Es i st schwer
vorstellbar.« »Es ist unmöglich. Ich hätte schon Schwierigkeiten,
mich selbst umzubringen.
Aber jemand anderen ... nein. Das ist leider nicht zu schaffen.«
„Ich wollte auch nicht unterstellen, dass Sie ... «
„Nein, das wollten Sie nicht, meine Liebe, das weiß ich. Sie möchten
Klarheit gewinnen, das habe ich schon verstanden. Wissen Sie, ich habe Ihre Großmutter immer
gehasst. Und Chad Beckett auch. Dieses saubere Pärchen, das es sich so verdammt einfach gemacht
hat. Immer schön darauf bedacht, das eigene Fell zu retten. Letztlich hängt mein verkorkstes
Leben eng mit der Selbstsucht, der Feigheit und der Eigenliebe dieser beiden Menschen zusammen.
Ich kann es Ihnen erzählen, wenn Sie möchten, Dr. Cramer. Ich kann Ihnen erzählen, wie es kam,
dass mich Gordon McBright vor vierzig Jahren zum unheilbaren Krüppel geschlagen hat. Ich kann
Ihnen erzählen, was er alles mit mir getan hat, und es kommt sicher nicht im Entferntesten an
irgendetwas heran, was Sie in Ihrem Leben erfahren mussten, Leslie. Ich glaube nicht, dass das
Dasein ganz einfach ist, wenn man Fiona Barnes zur Großmutter hat,
aber die Dimension meines Leidens ist eine andere, darauf können Sie wetten.«
„Ich würde es gern erfahren«, sagte Leslie.
»Aber warum hast du das getan?«, fragte Colin.
Er stand mit dem Rücken zu dem kleinen Fenster der Dachkammer, die sie seit Jahren bewohnten,
wenn sie ihre Ferien auf der Beckett-Farm verbrachten. Und obwohl er kein ausgesprochen
breitschultriger Mann war, verdeckte er fast völlig die Glasscheibe und sperrte das späte Licht
des Tages aus.
Jennifer saß auf dem Bett, Wotan und Cal zu ihren Füßen. Beide Hunde hatten ihre Nasen auf
Jennifers Knie gelegt und schauten, mit den Augen um Liebkosungen bittend, zu ihr auf Sie
kraulte gedankenverloren die beiden großen Köpfe.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich auf Colins Frage.
»Also, Jennifer, wirklich ... « Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine Falschaussage, die du
gegenüber der Polizei abgegeben hast. In einer Mordermittlung! Das kann dich in riesige
Schwierigkeiten bringen. Und du sagst einfach, du weißt nicht, weshalb du das getan
hast?«
Sie gab sich ungerührt. »Vielleicht habe ich zu impulsiv gehandelt. Ich hatte nur den Eindruck,
es sei besser ... ein Alibi zu haben. Diese Polizistin, sie ist wie ein Bluthund. Sie will
diesen Fall lösen, um jeden Preis, auch wenn derjenige, den sie am Ende als Täter präsentiert,
gar nicht der Täter ist. Ich wollte vorbauen.«
»Und da behauptest du, du seist den ganzen Abend mit Gwen zusammen gewesen, auch wenn das gar
nicht stimmt?«
»Und ist das so schlimm?«
Er fasste sich an die Stirn. So kannte er Jennifer nicht, so naiv und
zugleich so verbohrt. »Es ist eine Falschaussage. Du gerätst in Teufels Küche, wenn das herauskommt.«
»Wie sollte es denn herauskommen?«
»Na ja, immerhin hat Gwen es mir erzählt. Ganz offenbar schlägt sie sich mit der Frage herum,
weshalb du es glaubtest nötig zu haben, eine solche Konstruktion zu zimmern. Als Nächstes wird
sie mit Dave darüber sprechen. Dann vielleicht mit ihrem Vater. Leslie Cramer wäre auch noch
eine gute Anlaufstelle. Und irgendwann, darauf kannst du Gift nehmen, kommt es dann der Polizei
zu Ohren. Jennifer, wie konntest du Gwen als verlässlich
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