Das andere Kind
Chads Überlebenschancen. Selbst als
medizinischer Laie hätte Leslie erkannt, dass dem alten Mann nicht viel Zeit blieb. Er würde
die Nacht nicht überleben, wenn er nicht so rasch wie möglich in ein Krankenhaus
kam.
Sie schlich zur Tür, drehte lautlos den Schlüssel um. Öffnete langsam, mit angehaltenem Atem.
Fast hatte sie erwartet, Dave gegenüberzustehen, aber der Flur lag hell und leer vor ihr. Noch
immer konnte sie aus keiner Ecke des Hauses ein Geräusch vernehmen.
Er ist entweder draußen, oder er steht hier irgendwo mit angehaltenem Atem und wartet, dass ich
einen Fehler mache.
Ihr Herz klopfte wie rasend, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hatte vorher nicht
gewusst, wie sich echte Angst anfühlte. Sie kannte die Angst vor einer Prüfung. Die Angst vor
dem Alleinsein. Die Angst vor einem unangenehmen Gespräch, einem Zahnarztbesuch, vor ihrem
Scheidungstermin. Tausend Ängste, aber das, was sie jetzt fühlte, war Todesangst, und die war
neu. Leslie hatte sie nie vorher erlebt. Sie lernte sie in diesen Momenten als eine extrem
körperliche Angst kennen: Schweißausbrüche, wieder und wieder, am ganzen Körper. Das Dröhnen in
den Ohren. Der jäh austrocknende Mund. Die Unfähigkeit zu schlucken. Dennoch schlich sie tapfer
über den Flur. Der Fußboden war hier, wie im Wohnzimmer, mit Steinen gefliest, es gelang ihr,
nicht den geringsten Laut zu verursachen.
Nur wenige Meter, drei oder vier vielleicht. Sie erschienen Leslie wie eine endlose Strecke,
die Minute, die sie brauchte, um sie zurückzulegen, wie eine Ewigkeit. Jede Sekunde erwartete
sie eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte. Eine Stimme, die sie ansprach. Aber nichts
geschah. Nichts durchbrach die Stille ringsum.
Sie erreichte das Arbeitszimmer, huschte hinein. Alles war unverändert: die brennende
Schreibtischlampe. Das leise Summen des Computers.
Blitzschnell schloss sie die Tür - und erstarrte, als sie feststellte, dass hier kein Schlüssel
steckte.
Allen Mut zusammennehmend, öffnete sie noch einmal, schaute auf der Außenseite nach, fand aber
auch dort nichts. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass das Arbeitszimmer abschließbar
war. Egal, ihr blieb nun nichts übrig, als hier zu telefonieren, bei unverschlossener Tür, so
rasch sie konnte und betend, dass niemand sie überraschte. Sie nahm den Hörer von der
Gabel.
»Das würde ich nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Ich würde den Hörer schnell wieder
auflegen und mich langsam umdrehen.«
Leslie begann zu zittern. Vor Angst, vor Entsetzen und aus Überraschtheit.
Sie drehte sich um, die Augen fassungslos geweitet. In der Tür stand Gwen.
Sie hielt einen Revolver in der Hand, den sie auf ihre Freundin richtete. Ihre Hände waren
völlig ruhig und sicher.
Ihr Gesichtsausdruck war der einer Wahnsinnigen.
Es ist schön, wieder daheim zu sein, dachte Jennifer. Das Haus roch ein wenig seltsam nach den
zwei Wochen Abwesenheit, aber Jennifer hatte alle Fenster geöffnet und die frische, herbstliche
Luft in die Räume strömen lassen. Colin arbeitete sich durch einen Berg Post, den die Nachbarin
gewissenhaft aus dem Briefkasten geholt und auf dem Tisch im Esszimmer gestapelt hatte. Cal und
Wotan hatten ihr Abendessen bekommen und nun selig ihre großen Kuscheldecken in den ihnen
vertrauten Ecken des Wohnzimmers wieder mit Beschlag belegt. Im Hintergrund lief leise der
Fernseher.
Was mache ich morgen?, fragte sich Jennifer. Sie stand in der geöffneten Küchentür, blickte
hinaus in den dunklen Garten, der nach herbstlichem Laub, nach Feuchtigkeit, nach welkem Gras
roch. Sie mochte den Herbst, liebte die dämmrigen Nachmittage, die frühen Abende, die Vorboten
der nahenden Weihnachtszeit. Ausgiebige Spaziergänge mit Cal und Wotan über neblige Felder, die
Rückkehr in ein warmes Haus, an ein knisterndes Kaminfeuer und zu Kerzen, die in den Fenstern
standen. Die innere Wärme, die aus dieser Atmosphäre entstand, hatte ihr immer wohlgetan.
Dennoch musste es daneben etwas anderes in ihrem Leben geben. Die Kommunikation mit anderen
Menschen. Den Stress, den Ärger, aber auch die freudigen Momente, die im Zusammensein mit
anderen entstanden. Teilnehmen am Leben, das war es, was sie brauchte. Wonach sie suchen
musste.
Also ein Job. Das war da s Erste. Das war der
Ausgangs punkt für alles andere. Sie würde die Zeitungen
durchforsten. Vielleicht auch selbst eine Annonce aufgeben. Sie war immerhin Lehrerin,
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