Das andere Kind
hatte
Anglistik und Romanistik studiert. Sie konnte Nachhilfestunden anbieten. Außerdem gab es
vielleicht auch in Leeds eine ähnliche Einrichtung wie an der Friarage School in Scarborough,
ein Angebot von Sprachkursen für Erwachsene. Es würde ihr Freude machen, an zwei oder drei
Abenden in der Woche eine Französischklasse zu unterrichten und dabei vielleicht sogar neue
Freunde zu finden.
Der Gedanke an die Friarage School brachte sie auf Dave Tanner. Irgendetwas hatte schon während
der Fahrt von Staintondale nach Leeds in ihrem Hinterkopf gebohrt, irgendein Gedanke, eine
Frage, aber sie war so sehr mit sich und ihren Zukunftsplänen beschäftigt gewesen, dass sie
sich nicht darum gekümmert hatte.
Nun aber fielen ihr die Bilder des vergangenen Nachmittags ein: Dave Tanner, der mit Colin im
Wohnzimmer auf der Beckett-Farm gesessen hatte, als sie und Gwen aus der Stadt zurückgekehrt
waren. Sie hatten ein paar belanglose Worte gewechselt, dann hatte Jennifer sogleich nach oben
gedrängt, sie hatte allein sein wollen, zusammen mit Colin, hatte ihm von ihren Überlegungen
und Plänen berichten wollen. Nichts sonst hatte sie interessiert.
Sie schloss die Küchentür, ging hinüber ins Esszimmer, wo Colin mit gefurchter Stirn irgendein
amtliches Schreiben studierte.
»Die Beiträge für unsere Altersvorsorge ... «, begann er, aber sie unterbrach ihn: »Colin, was
wollte eigentlich Tanner heute auf der Farm? Ihr wirktet so vertieft, als ihr da am Kamin
gesessen habt ... «
»Der Bursche ist endli ch vernünftig geworden«,
sagte Colin, ohne von dem Brief in seinen Händen aufzublicken. »Ich
meine, die Idee dieser Heirat mit Gwen ... es hat ja niemandem behagt, und keiner hatte ein
gutes Gefühl dabei ... «
Jennifer spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten, ohne dass sie sofort
begriff, weshalb. »Und?«, fragte sie. »Er wollte es ihr sagen«, meinte Colin, »und fühlte sich
natürlich ganz schön unwohl, der arme Kerl. Na ja, da kam ich ihm wohl recht gelegen, um ihm
die Zeit zu vertreiben.« »Was?«, fragte Jennifer. »Was wollte er ihr sagen? Und wem?
Gwen?«
»Natürlich Gwen. Wem sonst«, erwiderte Colin und blickte endlich auf. »Er wollte ihr sagen,
dass er keinen Sinn mehr in einer gemeinsamen Zukunft sieht und dass es wohl besser ist, wenn
sich ihrer bei der Wege nun trennen. In der Art. Ich denke, das ist nur vernünftig. Von seiner
Seite aus war es nie die große Liebe, und sie hatte sich wieder einmal ein Luftschloss
zurechtgeträumt, das nie der Realität standgehalten hätte.«
Das Kribbeln auf Jennifers Armen wurde stärker. »Mein Gott«, sagte sie leise.
»Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, meinte Colin. »Das ist hart für
Gwen, aber denkst du nicht, sie spürt das schon seit einiger Zeit? Sie ist doch nicht
unsensibel. Ich glaube kaum, dass diese Entwicklung völlig überraschend für sie
kommt.«
»Aber der endgültige Moment ist immer ... « Sie sprach nicht weiter. Das Angstgefühl, das in
ihr aufstieg, drohte sie für einen Augenblick beinahe zu überwältigen.
Ruhig, mahnte sie sich, vielleicht siehst du bloß Gespenster.
»Ich glaube, ich sollte kurz bei Gwen anrufen«, sagte sie. Colin widersprach. »Ich denke, sie
muss da allein durch. Du kannst sie nicht ewig beglucken.«
»In solch einer Situation brauchen wir alle jemanden«, entgegnete Jennifer. Sie nahm das
tragbare Telefon aus dem Ladegerät auf dem Esstisch und tippte die Nummer der Beckett-Farm ein.
Sie wartete nervös. Niemand am anderen Ende nahm das Gespräch an.
Sie wiederholte ihren Anruf, wieder ohne Ergebnis. »Seltsam. Die müssten doch da sein. Chad auf
jeden Fall. Und Gwen eigentlich auch.«
»Du kennst doch Chad, den Eigenbrötler. Der hat vielleicht einfach gerade keine Lust, ans
Telefon zu gehen. Und Gwen weint sich die Augen aus.«
»Sie könnte trotzdem ans Telefon gehen.« »Sie kommt da auch ohne dich durch. Sie muss.
Letztlich kannst du ihr gar nicht helfen.« »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl« »Sie
nimmt sich nicht das Leben. Nicht Gwen. Sie ist ein zartes Pflänzchen, aber sie hat auch
gutes, bodenständiges Bauernblut in den Adern. Sie schafft das.« »Ich wünschte, ich wäre jetzt
dort«, sagte Jennifer voller
Unruhe. »Wozu denn?« »Um mich zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist.« »Was soll denn nicht
in Ordnung sein?« Sie starrte an ihm vorbei zum offenen Fenster hinaus. »Wenn Dave ihr
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