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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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reagiert hast, wirst du wieder glücklich ins Morgenrot marschieren.«
    Sie hielt inne, betrachtete kurz ihre Waffe. »Das heißt - so hätte es sein können. Natürlich
    wird nun alles ganz anders kommen.«
    »Du brauchst Hilfe, Gwen.«
    Gwen lachte wieder, diesmal jedoch nicht triumphierend. Es schwang eher ein Anflug von Hysterie
    in ihrem Lachen. »Das ist fantastisch, Leslie. Wirklich fantastisch! Ich brauche Hilfe? Auf den
    letzten Metern deines egozentrischen und vollkommen auf deine Belange konzentrierten Lebens
    stellst du tatsächlich noch fest, dass die gute alte Gwen Hilfe braucht. Ja, du hast recht.
    Verdammt recht. Ich brauche Hilfe. Ich hätte Hilfe seit vielen Jahren gebraucht. Aber das hat
    keinen von euch interessiert.«
    »Wann immer wir einander gesehen haben ... «
    »Was nicht allzu häufig der Fall war, oder? Zweimal im Jahr? Häufiger kam
    die vielbeschäftigte Ärztin Dr. Cramer ja kaum aus London a ngerauscht, um ihre Großmutter zu besuchen. Und ja,
    wirklich, jedes Mal dann auch ein Pflichtbesuch auf der Beckett-Farm. Ich komme kurz auf einen Kaffee vorbei, Gwen! Kurz! Immer
    schön zeitlich begrenzt, damit ich bloß nicht auf die Idee komme, mehr Zuwendung von dir
    einzufordern, als du zu geben bereit warst, und das war nie viel. Du fandest die Farm
    langweilig, du fandest mich langweilig! Ich hatte ja auch nie groß etwas zu erzählen. Wovon
    sollte ich denn berichten? Von meinem Kampf gegen den Zerfall? Von meiner Mühe, mit dem knappen
    Geld meines Vaters über die Runden zu kommen? Von meinen Versuchen, Feriengäste anzuziehen und
    dabei doch immer nur an Jennifer und Colin hängenzubleiben, die ich fast nicht mehr sehen
    konnte, die ich aber umgarnen musste, damit wenigstens sie nicht auch noch absprangen?
    Spritzige Themen, findest du nicht?«
    »Du hättest einfach die Wahrheit sagen können. Dass es dir nicht gut geht. Dass du Hilfe
    suchst.«
    »Hast du das nicht von selbst bemerkt? Hast du ernsthaft geglaubt, ich
    könnte mit dem Leben, das ich führte, glücklich sein? Hier in dieser Weltabgeschiedenheit?
    Zusammen mit meinem alternden Vater, der kaum je ein Wort sprach? Mit deiner penetranten
    Großmutter als Zugabe, die ewig hier herumhing und mir deutlich zu verstehen gab, wie
    altjüngferlich und nichtssagend sie mich fand, und dass ihr ausschließlich an der Gesellschaft
    meines Vaters, dieser großen Liebe ihres Lebens, gelegen war? Hast du gedacht, mir geht es gut?
    Ohne Freunde, ohne jeden Kontakt? Ohne einen Mann, der sich einmal für mich interessiert hätte?
    Ohne die Hoffnung auf ein normales Leben? Ehe, Kinder, ein eigenes Zuhause. Hast du gedacht,
    ich sehne mich nach alldem nicht? Ich hätte keine Träume? Hast du das wirklich gedacht, Leslie?«
    Leslie schloss für eine Sekunde die Augen. »Nein«, sagte sie leise. Sie öffnete die Augen
    wieder und sah Gwen an. »Nein. Ich kannte deine Träume. Ich wusste, wonach du dich sehntest.
    Aber ... «
    »Was, aber?«
    »Aber auf der anderen Seite hast du dich immer lächelnd und ausgeglichen präsentiert. Hast von
    deinem Vater geschwärmt und hast Fiona als deinen Mutterersatz bezeichnet. Auf irgendeine Weise
    ... schienst du mir aufgehoben in diesem Leben, das dich umgab. Du warst eben ... anders als
    viele andere. Ich hätte ... «
    »Ja?«
    »Ich hätte vielleicht genauer hinschauen sollen«, sagte Leslie.
    Beide schwiegen eine Weile
    Lieber Gott, dachte Leslie, lass mich zu ihr durchdringen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, aber Gwen zuckte nur mit den Schultern. »Das würde
    ich an deiner Stelle jetzt auch sagen«, meinte sie.
    Wieder herrschte Stille. Leslie spürte, wie sich ihr rasender Herzschlag ein wenig beruhigte,
    ohne dass sich aber deshalb ihre Anspannung und Angst gelöst hätten. Sie vermochte etwas klarer
    zu denken, und es schien ihr, als habe Gwen ein gewisses Problem mit der Situation.
    Offensichtlich hatte sie sowohl auf Dave als auch auf ihren Vater geschossen, und es bereitete
    ihr wenig Skrupel, beide Männer nun ihrem Schicksal zu überlassen; einem Schicksal mit aller
    Wahrscheinlichkeit nach tödlichem Ausgang.
    Aber seit einer guten halben Stunde stand sie nun in der Tür des
    Arbeitszimmers, richtete die Waffe auf die einstige Freundin und drückte nicht ab. Weder schien sie ge gen Leslie den gleichen
    namenlosen Hass zu hegen wie gegen Chad, Dave und womöglich Fiona, noch hatte Leslie auf ihrem
    Plan für den heutigen Abend gestanden. Sie war unerwartet auf der Farm

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